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Sketch des Monats Oktober: Der Pritschenwagen

Sketch des Monats Oktober:

Der Pritschenwagen

Ein Sketch für fünfzehn Schafe, zwei Lämmchen und beliebig viele Schafstatisten

 

Wundersdorf, Schafweide. Flocke, Wolle und Kohle, Grauchen und Blütenweiß stehen zusammen und grasen. Des Herbstes letzte warme Tage tauchen die Weide hinter rotgold gefärbten Bäumen in ein bezauberndes Licht.

Alles ist friedlich und still.

Da kommen Fixi und Huf mit ihren Rucksäcken und einem Riesengeschrei über den Hügel gestürmt und kippen den älteren Schafen einen Haufen Zeitungsausschnitte vor die Nase.

Huf (in einem Ton, der keinerlei Widerspruch duldet): Jetzt aber!!!

Wolle (blickt auf): Hallo erstmal! – Um was geht’s?

Fixi (triumphierend): Hallo! Diese Bildtafeln aus Neuzelle da sind fertig!

Huf: Worauf wir die ganze Zeit gewartet haben!

Flocke (ist herangekommen und hat sich mit Nase und Hufen einen Artikel zurechtgestupst): „Europaweit einmalig. Barocke Passionsdarstellungen von Neuzelle erhalten eigenes Museum“.

Blütenweiß (hoppelt heran): Das ist ja wunderbar, dann können wir ja endlich fahren!

Fixi (stolz): Yep!

Huf: Was dachtet ihr denn, warum wir so einen Wind machen?

Flocke (überfliegt den Artikel, mit Begeisterung): „… europaweit einzigartige barocke Kulissentheater von Leidensweg und Auferstehung … Neuzelle … weitgehend restauriert. … Ab 20. März 2015 können zwei Passionsszenen im Kutschstall des früheren Zisterzienserklosters … besichtigt werden.“

Grauchen (unternehmungslustig): Aber das ist ja phantastisch!

Fixi und Huf: Na klar! – Das sagen wir doch!

Blütenweiß, Grauchen, Fixi und Huf (springen wie wild durcheinander, singend): Wir werden nach Neuzelle fahrn, wir werden nach Neuzelle fahrn!

Weitere Schafe kommen neugierig hinzu und schließen sich schnell dem ausgelassenen Treiben an. Nur Wolle, Flocke und Kohle werfen sich vielsagende Blicke zu und bleiben seufzend abseits stehen.

Grauchen (völlig außer Atem, unterbricht kurz seinen Freudentanz, im Guter-Dinge-Tonfall): Hey, ihr Drei! Warum sagt ihr nichts?

Kohle (verzieht das Gesicht): Also …

Wolle (druckst rum): … wir wollen euch ja nicht den Spaß verderben, aber …

Flocke (läßt die Bombe platzen): … der Pritschenwagen ist weg!

Mit einem Schlag herrscht Totenstille. Die Schafe blicken sich völlig verdattert nach der kleinen Gruppe um.

Blütenweiß (nach einer Weile, ungläubig): Was?

Flocke (ruhig): Ich sagte: Der Pritschenwagen ist weg!

Grauchen: Wie – weg?

Kohle: Weg eben.

Ein Schaf (orientierungslos): Wie – weg? Wie sollen wir denn ab jetzt zum Krippenspiel in die Stadt kommen?

Flocke: Öh – per Anhalter?

Ein anderes Schaf (empört): Sehr witzig! Und wer nimmt eine ganze Schafherde per Anhalter mit?

Ein drittes: … und bringt sie zum nächsten Chorwettbewerb?

Ein viertes (in Aufruhr): Und sollen unsere Lämmchen jetzt etwa per Anhalter in die Bibliothek fahren?

Ein fünftes: Und wie kommt Tatze zur Messe?

Ein sechstes: Und was heißt überhaupt „weg“?

Ein siebentes? Ist er geklaut worden?

Ein achtes: Oder ist nur das Benzin alle?

Ein neuntes (mit ironischer Distanz): ‚Wer hat aus meinem Pritschenwagen getrunken?‘

Ein zehntes (ärgerlich zum neunten): Kannst du nie mal ernst bleiben?

Kohle: Neinein, der Pritschenwagen, der uns immer gute Dienste geleistet hat, ist wirklich weg. Man sagt, das müßten wir nicht verstehen.

Huf (patzig): Tu ich auch nicht!

Das dritte Schaf: Äh – wurde da mal irgendwas kommuniziert? So von offizieller Seite?

Kohle: Öh – nö! Von offizieller Seite nicht …

Wolle: … aber angeblich war er alt.

Flocke: Ich hab unter sechs Augen gehört, er wurde nach Berlin verschenkt.

Wolle (guckt Flocke irritiert an): Nach Sachsen verkauft!?

Flocke (guckt zurück): Nach Berlin verschenkt!

Wolle (beharrlich): Nach Sachsen verkauft!

Fixi: Ey, sagt mal, wollt ihr uns [es folgt ein jugendsprachlicher Kraftausdruck für „auf den Arm nehmen“]?

Kohle: Nein, Fixi. Es ist so, wie wir sagen.

Huf: Aber was sagt ihr denn? Die eine so, die andere so.

Wolle: Das verstehe ich auch nicht. Flocke, wo hast du das mit Berlin her?

Flocke: Von Tatze.

Kohle: Hm. Der ist quasi ein Hauptamtlicher. Muß es eigentlich wissen.

Wolle: Und ich hab meine Info direkt von Tina. Die sollte es ja wohl auch wissen.

Grauchen: Aber das ergibt doch keinen Sinn! Corinna verschenkt nichts! Nicht Corinna! Das glaub ich einfach nicht!

Blütenweiß: Und wenn eine sächsische Herde ihn uns noch abkauft, kann er ja nicht zu alt zum Fahren gewesen sein …

Das sechste Schaf: … sonst wär‘s ja wie mit den abgelaufenen Medikamenten in die dritte Welt …

Das fünfte Schaf: … so etwa!

Grauchen (in Kriegsratstimmung): Ich finde, das schreit nach Aufklärung!

Blütenweiß (ganz ungewohnt direkt): Das find ich auch! Da ist doch schon wieder irgendwas faul!

Wolle: Aber wer könnte uns helfen?

Flocke (nach kurzem Nachdenken): Richard und Edith. Oder Hannah und Karl. Oder Silke.

Kohle: Stimmt. Eigentlich gibt es genügend Leute, die das Herz am rechten Fleck haben.

Blütenweiß: Aber wie kommen wir an die ran?

Grauchen: Jetzt, wo der Pritschenwagen weg ist? Wir sind ja quasi immobil …

Das vierte Schaf: … und können übrigens, wenn wir nicht mehr gemeinsam durch die Gegend karriolen, auch nicht mehr für das Herdendasein Reklame machen.

Das zweite Schaf: Es ist ein Elend!

Das fünfte Schaf: Auf lange Sicht schadet so was der Schäferei an sich … auch den Hirten!

Das achte Schaf: Wenn sie’s nur einsehen würden!

 

Ach ja! Die armen Schafe. Da stehen sie nun mit der niederschmetternden Nachricht und wissen sich keinen Rat. Die Nachmittagssonne beginnt, sich hinter den Baumwipfeln zu verstecken. Kühl ist es geworden auf der Wundersdorfer Weide. In Gruppen stehen die kleinen Rasenmäher und grübeln vor sich hin.

Da blitzt das Herbstlicht durch das schüttere Laub und lenkt seinen milden Strahl Kohle direkt ins Gesicht. Kohle blickt auf und schaut einen Moment lang in goldenes Licht.

Kohle (mit einer plötzlichen Eingebung): Schafe!! Wie dumm wir sind! Wir haben doch so mächtige Hilfe!

Alle drehen sich nach Kohle um und machen ein neugieriges Gesicht.

Kohle: Wir werden BETEN!!! Unsere Kirche heißt nicht umsonst Maria hilf!

Die Schafe (durcheinander): Ja-a-a-a! – Wie waren wir kleingläubig! – Laßt uns etwas Schönes singen! – Wir bitten die Muttergottes um Beistand!

Fixi: Das Neuzeller Wallfahrtslied!

Die Schafe (stellen sich in Chorformation auf und beginnen nach Fixis Dirigat mit den getragenen Strophen): Maria, Mutter, Friedenshort … wenn deine Hand die Schatten hebt, wird uns ein Fest der Gna-a-a-a-den ta-a-a-agen!

Kohle (während die anderen singen, für sich): Aber publik muß es auch werden! (grimmig) Das ist der Moment, wo sich das Schaf vom Surfer trennt …

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Ja, so geht’s zu, auf der Weide bei Wundersdorf!
Aber was Kohle da nur gemeint hat?
Und ob nur dort urplötzlich Fahrzeuge verschwinden?

Bleiben Sie dran! 🙂

 

 

7 Trackbacks/Pingbacks

  1. Pulchra ut Luna › Das Parkver/gebot on Mittwoch, 12. November 2014 um 18:28

    […] Stellplatz des im Sommer nach Berlin verschenkten, nach Sachsen verkauften oder einfach so verschwundenen Pritschenwagens angekommen . Man sieht frische Fahrzeugspuren im nachgewachsenen Gras. Verblüfft bleibt Richard […]

  2. […] Die zweite Ministrantin: Wie unseren Pritschenwagen? […]

  3. […] Aber – klar! Unseren Pritschenwagen gibt’s ja nicht mehr […]

  4. Pulchra ut Luna › Die Laienförderung on Mittwoch, 1. Juli 2015 um 17:27

    […] sind mal wieder zur Bibliothek gefahren – per Anhalter, denn den Pritschenwagen hat Corinna ja versetzt  – und mit einem Rucksack voller Artikel und Bücher zurückgekehrt. Nun bringen sie die Schafe, […]

  5. […] in die Menge. Von Ferne ertönt ein Tuckern, wie man es früher hier des öfteren vernahm. Ein Pritschenwagen ganz ähnlich dem alten gemeindeeigenen kommt über den Hügel gefahren und bremst sanft an der […]

  6. Pulchra ut Luna › Sketch des Monats: Die Planierraupe on Montag, 1. Februar 2016 um 18:26

    […] (hat eine Erleuchtung): Er ebnet die Wege (Teresa fällt in die Rede ein): für einen neuen Pritschenwagen!!! (Sie fangen an, umeinander […]

  7. […] (mault weiter): Wenn wir wenigstens den Pritschenwagen noch hätten […]

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