Die Transferleistung
Sketch für sieben Erwachsene, zwei Kinder und beliebig viele Statisten
Lausig kalt ist es im Oderbruch. Ungehindert pfeift ein eisiger Ostwind über das flache Urstromtal. Harry Czypionka, seines Zeichens Redakteur beim „Petershagener Boten“, ist froh, in der warmen S-Bahn zu sitzen. Versonnen blickt er aus dem Fenster. Im Licht der aufgehenden Sonne liegt der S-Bahnhof Mahlsdorf. Ah – gut so! Noch Zeit, seine Banane zu essen. In aller Ruhe packt Herr Czypionka sein Obst aus und verspeist es genüßlich, den Blick auf die frisch verschneite Landschaft gerichtet. Endlich fangen hier, außerhalb Berlins, die Felder an. Schön ist das! Der glitzernde Neuschnee … richtig weihnachtlich. Jetzt müßte Heiligabend sein, denkt Herr Czypionka. Immer schneit es zu spät. Man sollte über eine erneute Kalenderreform nachdenken – eine Verschiebung der Daten um vier Wochen, dann wäre der Schnee „just in time“. Herr Czypionka schmunzelt. Wann war sie noch, die letzte Kalenderreform … ähm … vom … ja: vom 4. auf den 15. Oktober 1582. Todestag Teresas von Avila. Jaja! Gelernt ist gelernt. Zufrieden setzt unser Spezialist für Kirchenfragen sich zurecht und bemerkt, daß sein Zug mittlerweile schon Fredersdorf passiert hat. Rasch steht er auf, packt seine Sachen zusammen, knöpft seinen Wintermantel zu, legt den Schal mehrfach um den Hals und arbeitet sich durch die volle S-Bahn zur Tür. Als in Petershagen Nord endlich die Türflügel öffnen, schlägt Herrn Czypionka der eisige Wind sofort wieder ins Gesicht. Teufel, ist das kalt! Er hätte doch auch noch eine Mütze nehmen sollen, wie seine Frau gesagt hat. So unvorteilhaft er auch damit aussieht … Aber naja – zur Not ist es auszuhalten. Er muß eben schnell laufen.
Kaum hat Herr Czypionka, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, den kleinen Bahnhofsvorplatz betreten, als ein harter, eisiger Schneeball seinen beinahe kahlen Hinterkopf trifft. Leicht benommen und ärgerlich sieht er sich nach dem Übeltäter um, als ein zweites Geschoß ihn im Gesicht erwischt. Da! Die beiden Burschen an der Ecke haben wohl nichts besseres zu tun? Der erste macht schon wieder den nächsten Ball fertig, unter dem sich Herr Czypionka gerade noch wegducken kann.
Herr Czyiponka (zu den beiden Jungs): He! Ihr beiden da! So was macht man nicht! Das tut doch weh!
Einer der Jungs (grölt hämisch): Mütze auf die Glatze, Opa! (Er schleudert den nächsten Schneeball, der Herrn Czypionka fast die Brille von der Nase haut.)
Herr Czyiponka: Frechheit! Ich bin kein Opa! Und was seid ihr, hä? Rumtreiber! Habt ihr keine Schule?
Die beiden Halbwüchsigen lachen lauthals los. Um Schutz zu suchen, flieht Herr Czypionka zurück ins Bahnhofsgebäude und untersucht zunächst seine Brille. Zum Glück ist sie heil geblieben – aber verbogen. Hoffentlich kann er überhaupt damit arbeiten. Unerhört ist das! Wirklich gefährlich! Diese unerzogenen Rüpel! In seinem Zorn spricht Herr Czypionka laut vor sich hin.
Herr Czypionka: Unerhört, sowas! Das ist doch wirklich gefährlich! Diese unerzogenen Rüpel!
Eine Frau mit Bierflasche (ist neugierig geworden): Sie ham wohl ‘ne Ladung Schnee abjekricht? (Sie grinst.)
Herr Czypionka: Mehr als eine! Aber witzig finde ich das nicht! Und dann auch noch frech werden! (Er packt sich sorgsam wieder in seinen Schal ein.) Diese verwahrloste Jugend hier in den Außenbezirken!
Die Frau mit der Bierflasche: Aber, aber! Det sind doch Kinder! (leichthin) Kinder sind eben so – ham wir doch ooch jemacht – oder nich?
Herr Czypionka (in Rage): Vielleicht. Aber uns hat dann jemand zur Ordnung gerufen – eine Lehrkraft oder die Mutter! Das kann man doch nicht so laufen lassen! Den Kindern muß doch wenigstens klar gemacht werden, was richtig ist und was nicht, sonst wird doch alles immer schlimmer!
Die Frau (lacht): Na, denn rufen Se ma! (Sie geht zurück zu einer Gruppe von Männern, die den kurzen Gedankenaustausch von ferne verfolgt haben. Sie beginnen zu tuscheln und zu lachen und sehen immer wieder zu Herr Czypionka hin. Der nähert sich inzwischen vorsichtig wieder dem Ausgang, späht auf den Bahnhofsvorplatz und sieht zu seiner Erleichterung, daß die beiden Rüpel sich verzogen haben. Trotzdem! Laufen wird er jetzt nicht bis zur Redaktion. Ausnahmsweise wird er Taxi fahren.
Als Herr Czypionka in der Redaktion ankommt, hat die morgendliche Sitzung gerade begonnen.
Der Chefredakteur (jovial): Harry! Da bist du ja endlich! Komm rein, wir ham was für dich!
Die Sekretärin: Harry! Du siehst ja schlimm aus! Biste hinjefalln?
Herr Czypionka legt rasch ab und faßt seine Erlebnisse in aller Kürze zusammen. Mehr Zeit als für die Schilderung der Fakten nimmt er sich für deren Interpretation, die wir im wesentlichen ja bereits kennen.
Eine Kollegin: Nee, also sowat jeht würkich nich! (Sie blickt ihre Nachbarin zustimmungsheischend an.)
Die zweite Kollegin: Ick gloobe ooch nich, det wir so schlümm warn – und wenn, denn hat’s wat jesetzt. Det jing nich!
Die erste Kollegin: Und war ooch richtig so, finde ick. Allet kann man Kindern nich durchjehn lassn. Wo komm wa denn da hin?
Die zweite Kollegin: Ick meene, wir ham natürlich trotzdem den een‘ oder andern Schneeball hinter nem Lehrer herjeschmissen (sie lacht schelmisch) – aber wir wußten noch, dat det verboten war!
Die erste Kollegin: Klar! Blieb immer ’ne Ausnahme!
Der alternde Kulturredakteur (blickt über seine Brille in die Runde): Wenn die Schneeballschlacht kein Tabubruch bleibt, nimmt man den Kindern ja auch den Spaß daran. Sie suchen ja nicht den Schneeball als solchen, sondern das Verbotene. Wenn es keine richtungsweisende Instanz mehr gibt, wenn die Gesellschaft die Grenzen immer weiter hinausschiebt, zünden sie am Ende Autos an! Man muß Heranwachsenden klare Grenzen setzen! Das ist doch eine Binsenweisheit.
Die erste Kollegin: Völlig richtig! Et darf nich soweit komm‘, daß Kinder denken, et is normal, Unfuch zu machen.
Die zweite Kollegin: … oder sie sind nur dann „richtige“ Kinder …
Der alternde Kulturredakteur (gewichtig): Wenn die Tabuverletzung zur Norm wird …
Der Chefredakteur (bricht die Unterhaltung ab): … wie auch immer, ihr Lieben, lassen wir das! Wir haben hier nun wirklich völlig andere Sachen auf dem Tisch: Harry! Wir brauchen dich. Dein Papst Franziskus …
Herr Czypionka: Jaaa! Hab schon gelesen! Die Umfrage zur Sexualmoral ist durch.
Der Chefredakteur: WiSiKi und BDKJ fordern Transparenz …
Der Kulturredakteur: Daran kannst du es aufspießen, Harry: Das ZdK hatte gewünscht, daß sich möglichst viele Laien an der Umfrage beteiligen, aber in einigen Bistümern war es wohl komplett den Hauptamtlichen überlassen – Erfurt zum Beispiel. Und jetzt müssen sie betteln, daß sie die erhobenen Zahlen bekommen, die weitergeleitet werden … Wenn die überhaupt erhoben sind und nicht bloß gemutmaßt.
Der Chefredakteur (irritiert): Der SPIEGEL bringt die Unterhaltung mit 20 Jugendlichen in Berlin-Weißensee. Was interessiert uns Erfurt?
Herr Czypionka: Außerdem, die Hauptamtlichen in den Ordinariaten haben doch die Ohren am Volk! Die wissen doch, was los ist! Was soll man da jeden Einzelnen fragen!
Der Kulturredakteur: Und haben deine Hauptamtlichen auch Kinder?
Herr Czypionka: Aber Arne! Das ist doch völlig irrelevant! Wenn nicht, umso besser! Umso besser können sie sich um die Vielen sorgen und haben nicht nur den winzigen Ausschnitt vor sich, der gerade zufällig der Freundeskreis ihrer Kinder ist …
Die erste Kollegin (unruhig): Sagt mal, was fang ich denn hier für vibrations auf?
Der Kulturredakteur: … müssen sich aber auch nicht überlegen, was sie ihren eigenen Kindern mit auf den Weg geben!
Der Chefredakteur: Leute! Wir haben nicht ewig Zeit. Ich merke schon, Harry, so einfach ist das gar nicht. Ok, du kriegst außer der Kurzmeldung auf Seite Eins noch den kleinen Kommentar dazu – aber mehr nicht! Wir brauchen den Platz für das Snowden-Interview. Also beschränk dich am besten auf die gewaltig klaffenden Lücken zwischen dem, was die Kirche in Sachen Sexualmoral lehrt und der gesellschaftlichen Realität – lob Deinen Papst dafür, daß er das endlich zugibt und kritisier ein bißchen das Prozedere durch die DBK – ich denke, dann haben wir‘s. Nächster Punkt: Edward Snowden hat sein erstes Interview …
Die Sekretärin (die mit wachsendem Interesse zugehört hat, tuschelnd zu ihrer Nachbarin): Ick hab ma jelesen, daß die Deutschen sich wegen den Datenklau jar nich so heiß machen – vielleicht wär‘ det mit der Kirche da ma janz interessant – für die Familien und so … Also, wat unsre Leser sind …
Der Chefredakteur: Was gibt’s?
Die erste Kollegin (mit ironischer Distanz): Sabine fragt sich gerade, ob die Papstgeschichte nicht wichtiger wäre als das Snowden-Interview.
Das Redaktionsteam hüstelt, prustet oder lächelt mitleidig zu ihrer Sekretärin hinüber.
Die Sekretärin (ein bißchen errötet): Ich meine, was Arne vorhin sagte mit der richtungsweisenden Instanz …
Der Kulturredakteur (aufbrausend seine Unsicherheit verbergend): Wann soll ich das gesagt haben?
Die Sekretärin: Na von wejen die Schneebälle …
Nie war sich das Redaktionsteam des „Petershagener Botens“ so einig wie in diesem Moment.
Die Redakteure (durcheinander): Die Schneebälle – Also Sabine! – Aber sonst jeht’s dir jut, wa? – Tsssihihihihihi! – Wenn zwee sich scheid’n lass’n, is det doch in Ornung, tut doch keen’m weh! – Du bist wohl unberührt in die Ehe jegangen, hätt ick dir jar nich zujetraut!
Der Chefredakteur: Liebe Sabine, laß das doch bitte unsere Sorge sein! Wir wissen immer noch besser, was wir unserem Ruf als investigative Journalisten schuldig sind!
ENDE
Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Ja, so geht’s zu in Wundersdorf! Wie mag es wohl um die Kommentare in Weimarer Blättern bestellt sein?
PS: „die Hauptamtlichen in den Ordinariaten haben doch die Ohren am Volk“, selten, SELTEN, so gelacht!
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[…] ist und zweitens, weil sie, wenn wir auch praktisch nie mit ihm übereinstimmen, immerhin einen „Kirchenexperten“ hat, die TA aber nicht (vgl. […]
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