Wie langjährige Leser ja bereits wissen, manchmal dauert es etwas, bevor uns die Nachrichten aus Wundersdorf erreichen, aber was man da so hört; immer wieder lehrreich. In mancherlei Hinsicht…
Der Vinsanto
Ein Sketch für vier Personen
Wundersdorf im Oderbruch. Am Vorabend des Dritten Sonntags der Osterzeit haben Hanna und Karl es sich in der Couchecke der Langenfelds bequem gemacht. Auf dem Tisch stehen vier kleine Weingläser, eine große Schale mit selbstgebackenen Cantuccini und eine Flasche Vinsanto (besser hier, engl.). Edith rückt die Servietten zurecht und setzt sich auch hin. Ein sonniger Tag geht zu Ende, wenn auch der Kachelofen noch nicht ganz in die Sommerpause geschickt werden kann.
Hanna (plaudert): Gestern stand Corinnas Auto vor dem Pfarramt, obwohl der Pfarrer gar nicht da war.
Richard (nimmt in einem Sessel Platz): Ah ja! Klar: Sie vernichtet jetzt Beweise.
(Die andern müssen lachen.)
Richard: Was lacht ihr? Das liegt doch auf der Hand!
Karl (zu Richard): Du hast recht: Der Pfarrer geht weg …
Richard: … und da weiß sie, daß ihre Tage mit Generalschlüssel gezählt sind …
Hanna: Wir sollten die Stasizentrale … äh, das Pfarrbüro besetzen!
Karl (lacht): Genau! Wie damals.
Hanna (grinst): Normannenstraße!
Edith (nimmt die Vinsantoflasche in die Hand und betrachtet sie kritisch): Sagt mal, ihr habt doch noch gar nichts getrunken.
Karl: Nö. Wenn wir Corinna durchschauen, ist das die Frucht völlig nüchterner Überlegung.
Richard (setzt sich aufrecht): Trotzdem sollten wir diesen Zustand der Nüchternheit jetzt schleunigst beenden! (Er entkorkt die Flasche und beginnt reihum einzugießen.)
Edith (schiebt den Gästen die Schale mit Cantuccini zu): Und dazu ißt man Cantuccini (sie nimmt eins der Mandelplätzchen).
(Die vier nippen an ihren Weingläsern und schieben den Schluck ein bißchen im Mund herum.)
Karl: Hm! Lecker! (Er stellt das Glas ab.)
Hanna: Schön süß!
Edith: Ein Dessertwein. (Sie trinkt.)
Karl (greift nach der Flasche und liest sich etwas zur Provenienz durch): Ein 2003er Castello di Ama.
Richard (nickt): Aus dem klassischen Chianti-Gebiet.
Hanna: Aha. Und wo ist das? In der Toscana … (Sie betrachtet die Rückseite der Flasche.)
Richard: So ziemlich genau auf der Mitte zwischen Florenz und Siena (er trinkt noch einen Schluck).
Edith: Wunderschöne Gegend!
Karl: 14,5% Alkohol – und trotzdem noch so ein Zuckergehalt. Das ist irre. Wie schaffen die das?
Richard: Soviel ich weiß, wird Vinsanto aus getrockneten Trauben gemacht. Dadurch verdichtet sich der Zuckergehalt.
Hanna: Getrocknete Trauben – da braucht man ja ordentlich Platz, um sie gut belüftet trocknen zu lassen, damit sie nicht schlecht werden.
Richard: Ja. Warm und gut belüftet. – Und den Wein setzt man dann in älterem, fertigen Vinsanto an. Das bringt die Fermentierung in Gang. (Er trinkt und greift nach einem Mandelplätzchen.) Und dann braucht die Reifung eben Minimum 3 Jahre, eigentlich 5-10.
Karl (betrachtet den Wein in seinem Glas): Der ist jetzt 12 Jahre alt.
Edith: Der Vinsanto reift in Eichenfässern, wo der Deckelgriff ein Kreuz ist.
Hanna: Vinsanto. – Da heißt das Heiliger Wein und ist so sündhaft lecker (sie lacht).
Richard: Wieso „sündhaft“? Sünde ist was anderes! Wenn man vorher ordentlich gefastet hat, darf man in der Osterzeit auch was Leckeres trinken!
Karl: Heiliger Wein – ja! Woher kommt eigentlich der Name?
Edith: War glaube ich früher Meßwein. Zu Ostern.
Richard: In der Heiligen Zeit.
Edith: Ach! Deshalb soll man auch die Cantuccini eintauchen – das verstehe ich jetzt erst!
Hanna: Du meinst, wie bei der Kommunion in beiderlei Gestalt? (Sie läßt ein Mandelplätzchen in ihrem Wein einweichen.)
Edith (grinst): Kann-tutsch-ini sozusagen.
Hanna (lacht): Genau! Kann-tutsch-eini!
Edith: Hat meine Oma immer mit trockenem Kuchen in Kaffee gemacht.
Hanna (quiekt): Ja! Meine auch!
Richard (irritiert): Ja aber – Moment! Das soll bei der Eucharistie ja gerade nicht sein!
Karl: Machen wir aber immer so. Gründonnerstag. (Er tunkt ein Mandelplätzchen unter.)
Richard: Ist trotzdem verboten. Wenn es der Kommunikant selber macht.
Edith: Hä? Und wieso das jetzt?
Richard: Naja, um den Leib des HErrn nicht zu gefährden.
Hanna: Verstehe ich nicht.
Richard: Na, die geweihte Hostie ist halt kein Kann-tutsch-eini. Deswegen wird ja in zivilisierten Gegenden auch eine Patene untergehalten!
Edith (halb für sich): Hätte ich bloß nichts gesagt …
Hanna (hält ein Plätzchen hoch): Und die hast du selber gebacken?
Edith: Ja. Ist eigentlich kein Problem. Die Kinder fitschen die Mandeln frisch – das schmeckt man total, was für Qualität man da kauft – ja, und dann: Mehl, Eier, Zucker, bißchen Backpulver … also echt keine Hexerei! Aber zweimal backen, das ist so’ne Art Zwieback!
Hanna: Hmja, das spürt man ja. Superlecker!
Edith: Danke!
(Sie trinken und schmecken dem Schluck hinterher.)
Richard: Aber, Leute, nochmal zu den Vorgängen im Pfarrhaus …
Edith: Ich hab ja immer gesagt: Der Oderbruch-Tatort war ein Mißerfolg, weil sie das Schema-F nicht hinter sich gelassen haben. Hier ist es völlig idiotisch, Verfolgungsjagden im Auto zu inszenieren …
Hanna (lacht): … bei unserem Tempo 30 auf der Hauptstraße …
Edith: Eben! So ist Wundersdorf einfach nicht. Das funktioniert hier nicht. Der eigentliche Krimi spielt sich ganz woanders ab …
Karl (begeistert): Du hast Recht! Nobbi Bauer und Hurz Fliege ermitteln im Pfarrhaus! Das wäre der Renner!
Richard: So viele Leichen, wie Kneif und Corinna im Keller haben, könnten sie locker gleich mal 13 Folgen drehen.
Hanna: „Weitere Staffeln folgen.“ (Sie lacht.)
Edith (macht den ersten Vorschlag): „Rufmord im Pfarrblatt“
Karl: „Glockenstuhl und Pritschenwagen“
Richard: „Endstation Aktenshredder“
Edith: „Die neue Sekretärin“
Hanna (stutzt): Hm? Wir haben doch noch gar keine neue Sekretärin.
Edith: Hältst du das für Zufall? Was glaubst du, wie die Corinna jetzt im Weg wäre!
(Alle lachen.)
Karl: Aber wißt ihr – da ist leider ein Denkfehler dabei …
Die anderen (durcheinander, mit gespielter Entrüstung): Was? – Denkfehler bei uns? – Niiiiiiiemaaaaaaals! (Sie lachen)
Richard: Ich weiß, was du meinst: Es gibt keine Tatortstaffel mit jedes Mal denselben zwei Verdächtigen, stimmt’s?
Karl: Das ist genau das Problem.
Hanna: Unsere Serie wird stinklangweilig!
Edith (mit verstellter Stimme): „Anonyme Briefe aufgetaucht? Ha! Da bestellen Sie mir doch gleich mal Corinna Bischof in den Vernehmungsraum!“
Karl (ebenso): „Doppelte Handwerkerrechnungen? Corinna Bischof in den Vernehmungsraum!“
Richard (ebenso): „Kontenzugriff am Rendanten vorbei? Na, da wollen wir uns doch zur Abwechslung mal Corinna Bischof vornehmen!“
Hanna: Das müßte man also wohl doch in einer einzigen Folge abhandeln – mit dem Motiv der Wiederholungstäterin.
Edith: Ah! Genau! Sehr gut! (mit der verstellten Stimme) „Die Frau kenn ich doch! Die ist doch damals in der Geschichte mit der Orgel mit einem blauen Auge davongekommen …“
Karl: Und die Hintergrundstory ist: Mächtige Vorgesetzte haben sie gedeckt.
Richard: Genau! Der Filz reichte bis in die Spitze der Behörde!
Hanna: Lange waren den heldenhaften Kommissaren die Hände gebunden.
Edith: Erst ein neuer Polizeipräsident macht überhaupt die Ermittlungen gegen diese Frau möglich.
Karl (mit markiger Stimme): Aber sie sind noch da.
Edith: Wer?
Die andern: Na, die Helden.
Edith: Ach so! Ja, klar!
Richard: Und beginnen mit ihren Ermittlungen …
Hanna: Gib mir vorher aber doch noch mal so ein Kann-tutsch-ini!
ENDE
Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Ja, so geht’s zu in Wundersdorf! Bloß gut, daß in Weimar ja niemals jemand auf die Idee käme, solche Spekulationen könnten etwas mit der Realität zu tun haben. Oder verschlossene Papiertonnen gesehen hätte…
Zu der ernsten Frage nach der Kommunion unter beiderlei Gestalten vgl. hier.
Ein Trackback/Pingback
[…] Rituale haben es schwer in Herz Jesu Weimar. Wenn man jetzt mal vom gründonnerstäglichen eigenhändigen Eintauchen der Hostie in den Wein durch die Gläubigen selber absieht. Dieser liturgische Mißbrauch („Es ist dem Kommunikanten nicht erlaubt, selbst die Hostie in den Kelch einzutauchen oder die eingetauchte Hostie mit der Hand zu empfangen“ – Redemptionis Sacramentum Nr. 104) hält sich zäh. […]
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