Man lernt nicht aus.
Da hatte man einmal gut abgespeichert, daß „O du fröhliche“ aus der Weimarer Waisenfürsorge stammt – und hört auch schon aus kundigstem Munde, daß die Frage „Ist O du fröhliche eigentlich von Johannes Daniel Falk?“ nur mit „Im Prinzip ja“ beantwortet werden kann. Denn das von Falk (1768-1826), dem die evangelischen Christen mit seinem Todestag am 14. Februar sogar einen offiziellen Gedenktag gewidmet haben, auf die von Palestrina überlieferte Melodie des sizilianischen Marienliedes „O sanctissima“ gedichteten „O du fröhliche“ war zunächst kein Weihnachtslied, sondern ein Allerdreifeiertagslied, das in der ersten Strophe vom Mysterium der Geburt Christi, in der zweiten aber von dem der Auferstehung und in der dritten vom Pfingstwunder handelt:
„O du fröliche, o du selige,/ gnadenbringende Weihnachtszeit!/ Welt ging verloren, Christ ist geboren:/ Freue, freue dich, Christenheit!
O du fröliche, o du selige,/ gnadenbringende Osterzeit!/ Welt liegt in Banden, Christ ist erstanden:/ Freue, freue dich, Christenheit!
O du fröliche, o du selige,/ gnadenbringende Pfingstenzeit!/ Christ, unser Meister, heiligt die Geister:/ Freue, freue dich, Christenheit!“
Ich weiß nicht, ob in Falks Waisenhaus auch täglich Frühstück, Mittagessen und Abendbrot in einem Rutsch verabreicht wurden, aber zur religiösen Grundversorgung seiner Schützlinge schien Falk mit der Verpflichtung jedes Kindes, zumindest diese drei Strophen unbedingt zu memorieren und singen zu können, auf Nummer sicher gehen zu wollen.
Und so kam es, daß erst der aus dem oberfränkischen Wunsiedel stammende, in seiner publizistischen Tätigkeit nicht unumstrittene Sozialarbeiter Heinrich Holzschuher (1798-1847), der 1823 für kurze Zeit in Falks Weimarer Einrichtung hospitiert hatte, die zweite und dritte weihnachtliche Strophe von „O du fröhliche“ hinzudichtete und sie nach Falks Tod im Rahmen eines Krippenspiels in den Ausgaben des Bayerischen Landboten vom 23. und vom 26. Dezember 1826 [vgl. hier (23.12.26) und hier (26.12.26)] publizierte.
Unsere Verweise auf Wikipedia-Einträge zeigen, daß das alles keine Geheimwissenschaft ist. Aber man muß eben erstmal drauf kommen, danach zu fragen. Diesen Anstoß gab am gestrigen Abend ein Vortrag mit angeschlossenem Liederabend im Rahmen des „Forums am Abend“ im Otto-Neururer-Saal unseres Gemeindehauses. Zum Thema „O du fröhliche und andere Weihnachtslieder aus Weimar“ hatte Dr. Christoph Meixner (seines Zeichens Musikwissenschaftler und Leiter des in der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar untergebrachten Thüringischen Landesmusikarchivs, aber auch ehemaliger Regensburger Domspatz und daher ebenso tüchtiger wie ambitionierter ehrenamtlicher Leiter unseres Kirchenchores) einen Vortrag zusammengestellt, der mit einer kurzen Hörprobe zu verballhornten Weihnachtsliedern eröffnete, dann aber mit seiner gespannten Zuhörerschar via Digitalisierung in die historischen Tiefen seines Musikarchivs hinabstieg und so keinesfalls bei Wikipedia-Wissen stehenblieb. Wir sahen Bilder mensuralnotierter Musikalienhandschriften etwa aus dem unlängst gehobenen Kirchenschatz aus Neustadt a.d.O., die die im Spätmittelalter nicht unübliche Praxis dokumentierten, volkssprachliche Weihnachtslieder wie bspw. „Joseph, lieber Joseph mein“ (mit seiner Melodie aus dem 11. Jahrhundert) in die lateinischen Zeilen etwa eines Magnificat einzubetten.
Nach weiteren theoretischen Beispielen für die glückliche Beständigkeit gerade weihnachtlicher (Volks-)Liedtraditionen selbst über die große Umbruchzeit der Revolutionen und Säkularisierungen zu Beginn des „langen“ 19. Jahrhundert hinweg begann der praktische Teil des Abends – will sagen: Nach dem Schauen-Können kam jetzt das Hören-Dürfen. Die Sopranistin Angela La Rosée, eine der ehrenamtlichen Kantorinnen und Leiterin des Anfang September 2015 neugegründeten Jugendchores unserer Pfarrei, brachte in Begleitung von Prof. Michael Kapsner, Professor für Orgelimprovisation an der Weimarer Musikhochschule und Vater der Franz-Liszt-Gedächtnisorgel in unserer Herz-Jesu Kirche Weihnachtslieder der Weimarer Komponisten (und zum Teil katholischen Gemeindemitglieder) Franz Liszt, Carl Müllerhartung, Peter Cornelius und Carl Goepfart zu Gehör – Lieder, die Dr. Meixner ebenfalls aus dem Bestand des Hochschularchivs herausgesucht und als Notenmaterial zur Verfügung gestellt hatte.
Wunderschöne, aber auch durchaus skurrile Sachen.
Sehr schön fand ich „In stiller Nacht“ von Carl Goepfart (1859-1942), das aus dem Passionslied nicht ohne musikalische Anspielungen auf die Adaption durch Johannes Brahms ein Weihnachtslied macht, in dem die Stimme nicht zu „klagen“ sondern zu „sagen“ beginnt und „Leid“ in „Freud“ gekehrt ist.
Skurril aber natürlich Liszt … In zwei Versionen, eine fürs Konzert und eine zum Singen unterm Weihnachtsbaum en famille – Varianten, die sich im Schwierigkeitsgrad aber beide nicht viel nahmen – vertonte der Maestro ein Gedicht von Theodor Landmesser. Der Text erzählt von Äolsharfen und Zephirwinden, wie sie ’säuselnd Sündern künden‘ von der Ankunft unseres Herrn.
Mitten in Weimar.
Ok, hier weht ja derzeit jede Menge nützlicher frischer Wind – wer weiß, vielleicht ist Zephir ja sogar dabei.
Cornelie Becker-Lamers, Weimar
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