Die Redezeit
Ein Sketch für einen gelben Neunsitzer, sieben Personen und elf Statisten
Wundersdorf/ Oderbruch. Ein naßkalter, spätwinterlicher Abend. Diesige Luft drückt auf die Dächer des kleinen brandenburgischen Städtchens. Man sollte meinen, bei dem Wetter jage man keinen Hund vor die Tür. Die aufgeräumte Pfarrjugend der katholischen Gemeinde Maria Hilf! Wundersdorf sieht das anders. Gerade kommt sie von einem gemeinsamen Theaterbesuch mit dem neuen Pfarrer zurück. Laut und fidel trudeln die Jugendlichen nach und nach beim Gemeindehaus ein – wo alle erstmal wie angewurzelt stehen bleiben. Im Pfarrhof steht unübersehbar ein gelber Kleinbus!
Ah! Der neue Boni-Bus! werden Sie denken – und Sie sind damit nicht allein. Gespannt schauen die Jugendlichen den Pfarrer an und warten auf eine Erklärung. Aber auch er ist ausnahmsweise sprachlos.
Eine Stimme: Ah! Da kommt ihr ja doch noch!
Alle fahren herum. Wer kommt da, je einen Döner in der Hand, die Straße entlangspaziert? Jetzt treten die beiden ins Licht der Straßenlaterne.
Emily: Jenny! Tim! (Sie wird knallrot.) So ein Mist! Ich hab total unsern Termin vergessen!
Der neue Pfarrer (zu Emily): Nanu! So kenn ich dich ja gar nicht! (Er lacht.)
Britta (ist auch ziemlich verlegen): Hallo Jenny, hallo Tim! Unser Theaterbesuch hat sich verschoben – und da müssen wir übersehen haben, daß ihr heute kommen wolltet. Tut uns echt leid!
Tim (kaut): Theaterbesuch! Klingt ja nicht schlecht.
Jenny: Hallo zusammen! Was habt ihr euch denn angeguckt? (Sie beißt in ihren Döner.)
Heike: „Ich bin Kain“.
Tim (wartet einen Moment): Kein was?
Freddy: Kein Abel.
Alle lachen.
Tim (zum Pfarrer gewendet): Dürfen wir uns erstmal vorstellen: Tim und Jenny von der Logo-Redaktion.
Der neue Pfarrer (gibt den beiden die Hand): Ah! Guten Abend! Freut mich! Was führt euch zu uns?
Tim (weist auf Emily und Britta, die verlegen zur Seite schauen): Die beiden jungen Damen hier hatten uns vor ziemlich genau einem Jahr zur Logo-Redezeit herbestellt. (Er ißt seinen Döner.)
Der neue Pfarrer: Helft mir noch mal.
Jenny: Die Logo-Redezeit ist eine Möglichkeit für Kinder und Jugendliche, eine untragbare Situation in ihrem Umfeld zu thematisieren – völlig marode Gebäude oder irgend sonstwas Kaputtes.
Tim: Oder wenn das einzige Schwimmbad am Ort geschlossen werden soll.
Jenny (nickt): Irgend sowas. Logo interviewt dann ein paar Verantwortliche, berichtet in einer Sendung darüber – und häufig bessert sich die Situation …
Tim: … was wir dann in einem zweiten Termin dokumentieren.
Emily und Britta: …. ääääh … tut uns wirklich leid … (Sie winden sich.)
Jenny: Hier war die Lage aber sowieso ein bißchen besonders.
Tim: An ein Interview mit den Verantwortlichen war zum Beispiel überhaupt nicht zu denken.
Jenny (zu Tim): Weißt du noch, die Frau, die kam und uns als erstes anschnauzte, hier hätte kein gelber Bus zu stehen?
Tim (lacht): Das war echt gruselig. (Er geht seine Papierserviette wegwerfen.)
Jenny: Also wurde aus der Sendung nicht wirklich etwas.
Tim (kommt zurück): Aber fürs Archiv wollten wir trotzdem kommen und uns erkundigen, wie es weitergegangen ist.
Jenny: Und diesmal scheint es ja auch ohne Logo funktioniert zu haben. (Sie blickt in die Runde.)
Der neue Pfarrer: Moment mal! (zu Emily und Britta) Ihr habt das Fernsehen bestellt, um die Situation in der Gemeinde zu thematisieren?
Emily (gestikulierend): Was sollten wir denn machen – wenn uns der Kaplan und der Pfarrer im Regen stehen lassen …
Britta: … und uns die Tür vor der Nase zuschlagen, obwohl Jugendstunde im Plan steht …
Emily: … und über ein Jahr einfach gar nichts mehr geht?
Britta: Das ist ja wohl mindestens so belastend wie eine kaputte Schwimmbadpflasterung!
Der neue Pfarrer (zu Jenny und Tim): Na – kommt erstmal mit rein – wo übernachtet ihr denn?
Jenny: Wir müssen heute noch nach Eisenach.
Tim: Aber für einen Tee ist noch Zeit.
Der neue Pfarrer: Das kriegen wir hin! (Er schleust die gesamte Truppe vor sich her ins Gemeindehaus. Als letztes schlendern Britta und Emily, immer noch ein bißchen verlegen, Richtung Tür.)
Der neue Pfarrer (streckt den beiden die Hand entgegen und grinst): Kann es sein, daß ich euch immer noch unterschätzt habe?
ENDE
Cornelie Becker-Lamers, Weimar
Ja, so geht’s zu in Wundersdorf! Bloß gut, daß wir in Weimar in der Vergangenheit andere Möglichkeiten gefunden haben, um Mißstände öffentlich zu machen.
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