Das Gingkobäumchen
Ein Sketch für vier Personen
Wundersdorf, Oderbruch. Im Wohnzimmer der Familie Langenfeld. Es ist kurz vor sieben, der Eßtisch ist für das Abendbrot gedeckt. Edith bringt eine Schüssel Kartoffelsalat auf den Tisch und Teresa schleppt eine gußeiserne Pfanne mit gebratenem Kaßler hinterher. Emily kommt mit dem Ketchup, dem Senf und den Getränken aus der Küche. Richard rückt das Besteck zurecht, stellt Gläser auf den Tisch und zündet die Kerzen unter der Warmhalteplatte an.
Teresa (hievt die schwere Pfanne auf den Tisch): Uff!
Edith: Ich hab dir gesagt, die ist schwer.
Teresa : Trotzdem!
Richard: Teresa, wo du gerade die Hände frei hast, mach doch bitte grad mal den Fernseher an wegen der Nachrichten.
Teresa: Ok.
(Sie holt die Fernbedienungen vom Fernsehtisch und schaltet das Zweite Programm ein. Alle setzen sich an den Tisch.)
Edith: Mach noch mal eben den Ton aus, wir wollen beten.
(Sie singen „Segne, Vater, diese Gaben“ und reichen sich die Hände.)
Richard: So! (Er schaltet den Ton ein. Doch statt der Nachrichten kommt noch Werbung.)
Emily (nach der ersten Zehntelsekunde): Gingium!
Edith (verteilt Kartoffelsalat): Jaja – „was tun wir für unser Gedächtnis“. Und wozu braucht sie’s? Für ihr Computerpaßwort!
Emily: Ja, klar! (Sie nimmt sich ein Stück Kaßler.)
Edith: So klar finde ich das gar nicht. Es gibt Dinge, bei denen es sich viel mehr lohnen würde, sie im Gedächtnis zu behalten.
Teresa: Nämlich?
Richard: Na – was man zu SEINEM Gedächtnis tut, zum Beispiel. Aber das machen wir ja jeden Sonntag in der Kirche. (Er gießt sich ein Glas Wasser ein.)
Edith: Ahja. Klar – das macht der Priester. Und was machen wir zu „ihrem“ Gedächtnis?
Emily (stöhnt): Bitte, Mama, verschone uns mit deinen feministischen Theorien!
Edith: Das ist weder feministisch noch eine Theorie, meine Liebe, sondern ein Zitat aus dem Markusevangelium. (Sie zieht belehrend die Augenbrauen hoch.) Mit „ihr“ ist schließlich in dem Fall nicht Gott gemeint, sondern eine Frau, die Jesus salbt.
Teresa: Die Füße? (Statt zu essen, hört sie zu.)
Edith: Oder den Kopf. Da sind sich die Exegetinnen nicht so einig.
(Zu Teresa): Iß! Das Fleisch wird kalt!
Richard: Du hast Recht! Aber jedenfalls steht das „zu ihrem Gedächtnis“ im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums. Man wird es, sagt Jesus, „zu ihrem Gedächtnis“ erzählen, was sie erkannt und deshalb getan hat. (Er trinkt.)
Edith: Eben. (Sie schiebt sich eine Gabel mit Kartoffelsalat in den Mund.)
Teresa: Echt? Das steht da so?
Emily: Ich versteh den ganzen Zusammenhang zu dem vorher nicht! (Sie vergißt jetzt auch zu essen. Der Fernseher ist schon längst wieder leise gestellt.)
Edith: Zur Verkündigung sind wir alle aufgefordert. Aber was wissen wir eigentlich noch von dem, womit man so ein Gespräch mal locker anfangen könnte?
Richard (nickt): „Die Kirche in unseren Breiten krankt an einem eklatant mangelnden Glaubenswissen ihrer Mitglieder“ – hat unlängst erst wieder mightykingbear geschrieben.
Emily: Hm! Das stimmt. Aber wenn ich so an meinen Firmunterricht denke, weiß ich auch nicht, wo es alles herkommen sollte …
Teresa: Wenigstens haben wir jetzt eine tolle Relilehrerin!
Edith: Dein Firmunterricht kommt ja auch erst noch, Teresa – der kann ja heute viel besser sein als zu Emilys Zeit. (Sie trinkt.)
Richard: Aber was du, Edith, eigentlich sagen wolltest, war ja: Der beste Unterricht hilft nichts, wenn die Leute denken, alles ist in Ordnung, solange sie nur ihr Paßwort nicht vergessen.
Edith: Genau das wollte ich sagen. (Sie lächelt ihn an.)
Richard: Ich verstehe dich eben. (Er lächelt zurück.)
Emily: Ja – und jetzt? (Sie legt ihr Besteck weg.)
Edith: Iß doch bitte ein bißchen, Schatz! Du mußt doch gleich nochmal an den Schreibtisch, oder?!
Emily: Hmmmm. Ja. (Sie schiebt sich Kartoffelsalat in den Mund.)
Richard: So ganz nebenbei: Welchen Heiligen haben wir eigentlich heute?
(Die vier gucken sich an)
Edith: Ääähm … 4. Oktober …
Emily: Franz von Assisi!
Richard: Na, dazu gibt es ja immerhin schon mal ein Lied!
Teresa: Ich finde, das müssen wir mit den Schafen besprechen! Sie wissen bestimmt, was zu tun ist! (Ihre Augen leuchten unternehmungslustig.)
Edith: Das ist eine gute Idee! Am Wochenende!
Richard: Am besten, wir pflanzen einen Gingkobaum auf der Weide – damit sie beim Blätterfressen immer schön ihr Gedächtnis stärken können!
Teresa: Hä? Was sollen sie denn mit einem Gingkobaum?
Emily: Na „Gingium“ kommt doch von „Gingko“!
Teresa: Ach so?
Edith: Deswegen hält die Frau in der Werbung doch so ein geteiltes Blatt hoch.
Teresa: Das ist Gingko?
Emily: Klar!
Teresa: Hab ich noch nie gesehen! Wächst der bei uns?
Richard: Ich denke schon. Weißt du nicht mehr, in Weimar – da steht doch alles voll davon.
Teresa (überlegt): Stimmt ja! Aber ich dachte, das wäre wegen Goethe …
Edith (lacht): Genau – damit sie ihn dort auf gar keinen Fall jemals vergessen!
Richard: Also abgemacht! Ich fahre morgen in der Altlandsberger Chaussee vorbei und bringe von Kolbinger einen kleinen Gingko mit. Pflanzzeit ist ja.
Emily (skeptisch): Wie wird denn das Wetter am Wochenende? Mach mal eben laut – das ist grade dran!
Fortsetzung folgt
Cornelie Becker-Lamers
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[…] und überhaupt“ besprechen, welches sie neulich anläßlich einer Fernsehreklame andiskutiert haben. Während die Eltern geruhsam ihres Weges radeln, sind die Kinder schneller vorneweggefahren. […]
[…] Oderbruch. Schafweide. Große weiche Flocken fallen auf die Tanne, das frisch gepflanzte Gingkobäumchen, den Zaun, die Weide und den Unterstand und verpassen allen Dingen ein dickes weißes Häubchen. […]
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