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Wie – ausgefallen? Martinsspiel 2017 in Herz Jesu Weimar

Wie – ausgefallen?

Martinsspiel 2017 in Herz Jesu Weimar

Das Martinsspiel, das zum diesjährigen Geburtstag Martin Luthers am 10. November in Weimar den ökumenischen Umzug eröffnete, heißt „Das ausgefallene Martinsspiel“ und handelt von der Vorbereitung eines Martinsspiels, die nicht stattfinden kann: Bis auf die Verkörperung des Titelhelden erscheint kein Mitspieler zur Probe, weil alle stattdessen lauter gute Werke tun. Fazit: Das Martinsspiel hat gerade deshalb stattgefunden, denn der Bettler lebt auch heute und „hat viele Gesichter“. Ein also gar nicht so ausgefallenes, sondern vielmehr typisch intellektualisiertes Spiel, wie es derzeit üblich ist. Es bietet zwar weniger fürs Auge, weil der rote Mantel nur auf dem Bügel hängt, dafür die Moral von der Geschicht umso expliziter. In der Fotostrecke unserer Lokalzeitung kann man einen kleinen Eindruck der Aufführung gewinnen, hier.

Und dann ging der Umzug los. Man hatte Alexander Voynov angeheuert, einen von Galeriefesten und privaten Feierlichkeiten her stadtbekannten Akkordeonisten und – wie er sich selber nennt – Alleinunterhalter. Wie man ebenfalls auf der Fotostrecke sieht, hat sich der wackere Musikus sein Brot auch an jenem frühen Abend des 10. November 2017 redlich verdient und unverdrossen aufgespielt (besonders schön zu sehen auf den Fotos 14 und 15, aber auch 16 und etwas versteckter auf Bild 20).

Ich weiß allerdings nicht, was. Ich kenne Herrn Voynov schon fast so lange, wie er in Weimar lebt und habe ihn einige Male spielen und singen hören. Martinslieder waren umständehalber bisher nicht dabei – aber da der Künstler, wie er schreibt, sein jeweiliges Programm „ganz nach den individuellen Wünschen des Veranstalters“ gestaltet müßte er ja diesmal welche gespielt haben.

Gesungen hat allerdings niemand. Das sieht man ebenfalls auf den Fotos – und das habe ich live gehört, denn ich habe erstmals einen Martinsumzug als Zuschauerin erlebt – auf meinem Weg zur Liszt-Apotheke in der Steubenstraße nahe der katholischen Kirche, und aus der Apotheke heraus, in der die Mitarbeiterinnen bei offener Tür ratlos den nahezu lautlosen Zug betrachteten.

Nun weiß ich natürlich nicht, seit wieviel Jahren der Martinsumzug in Weimar schon weitgehend stumm vonstatten geht. Denn wenn ich mitgegangen bin, war ich ja immer in einer Traube singender Kindergartenkinder oder Cäcilini und sang selber mit gut vorbereiteten Erzieherinnen oder singenden Müttern singender Cäcilini im einstimmigen Chor. War es 50 Meter hinter uns auch damals schon stumm? Ich habe mich das in diesem Jahr erstmals gefragt. Die Tatsache, daß die Apothekerinnen das Nicht-Singen der kleinen Laternenkinder und ihrer Eltern und Betreuer eigens kommentierten, spricht eher dagegen. Aber sicher kann ich es nicht sagen.

Was ich hingegen sicher weiß, ist, daß es sich nicht wiederholen darf. Und daß ein achselzuckender Hinweis auf „Diaspora halt“ eine Ausrede ist, mit der man sich in sehr schlechte Gesellschaft begibt. Denn der Zug war ja lang und es waren viele Menschen dabei. Sie sangen nur eben nicht.

Wenn sich also das Singen im Laternenumzug zu Sankt Martin nicht (mehr) von selber ergibt – und offenbar kann man sich darauf nicht (mehr) verlassen – dann muß es organisiert werden ähnlich dem Gesang unserer Fronleichnamsprozession. Die Anforderungen liegen für den Martinsumzug etwas anders, sind aber zu bewältigen. Man braucht nur genügend Leute, die in einem abgesprochenen Abstand voneinander mit dem Zug mitlaufen und in kleinen Gruppen singen, damit andere sich dranhängen können: Kinder und (Wo)manpower eben. Das läßt sich organisieren, wenn man nicht, wie es natürlich in unserer Pfarrei seitens hochwohllöblicher “Beauftragter” sofort schon wieder geschieht, von vorneherein die Flinte ins Korn wirft.

Man sollte sich vor Augen führen, worum es geht. Im Rheinland ist man gerade dabei, den Martinsumzug als immaterielles Weltkulturerbe von der Unesco anerkennen zu lassen. Vor sechseinhalb Wochen, am 16. Oktober 2017, wurde der entsprechende Antrag eingereicht. Man argumentiert mit dem Gesamtpaket kultureller Rituale, die sich um das Martinsfest ranken und alle Lebensbereiche einbeziehen: Von der spielerischen Aktualisierung der im Prinzip feststehenden, wie auch immer modifizierten Martinslegende über die Inszenierung eines Lichterfestes im Martinsfeuer oder zumindest im Umhertragen selbstgebastelter Laternen und die Zubereitung und Verteilung speziellen Gebäcks bis hin natürlich zu einer ganzen Reihe von Liedern, die das ganze Spektakel begleiten und die Inhalte von Legende und eigenem Tun in der Widerspiegelung noch einmal verdoppeln: „Ich geh mit meiner Laterne“.

Interessant fand ich, in dem oben verlinkten Beitrag des WDR zu erfahren, daß ein vor über 30 Jahren aus Sri Lanka eingewanderter Elekromeister eine treibende Kraft bei der Idee zur Beantragung der Anerkennung des Martinsfestkomplexes als immaterielles Weltkulturerbe war und ist (vgl. den Radiobeitrag zwischen Minute 0:55 und 1:35). Den Vater dreier Kinder beeindruckte die Stimmigkeit des Festes und als zunächst Außenstehender erkannte er es – so muß man vermuten – besser als wir selber in seiner Besonderheit. In bewußter Abgrenzung zum vor rund zwei Jahrzehnten in Europa bekanntlich von der Verkleidungsindustrie implantierten Halloween erkannte der Einwanderer im Martinsfest einen besonderen Schatz seiner Wahlheimat.

Wir sollten ihm darin nicht nachstehen.

Cornelie Becker-Lamers, Weimar

Ein Trackback/Pingback

  1. […] in der Diaspora vielleicht besonders wichtig. Und Sie erinnern sich: Im letzten November war uns aufgefallen, daß der Martinsumzug in Weimar streckenweise wie ein Schweigemarsch vonstatten gegangen war und […]

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