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Die Milchkanne

Ein Sketchlet zum Osterparadoxon für ein Schaf und zwei Lämmchen

Wundersdorf, Oderbruch. Die allseits bekannte Schafweide. Eine kaum mehr wintermilchige Sonne steht hoch am blauen Himmel und wärmt Pflänzchen und Schafe mit den ersten kräftigen Strahlen des neuerwachenden Frühlings.

Richtig: Heute ist ja Frühlingsanfang!

Dennoch sitzen ausgerechnet Fixi und Huf, die beiden Lämmchen, im Unterstand am Rechner und scheinen fieberhaft zu recherchieren, als Kohle hereingeplatzt kommt und unvermittelt lospoltert.

Kohle: Fixi! Wo ist die Milchkanne?

Fixi (unschuldig): Welche Milchkanne?

Kohle: Du weißt genau, was ich meine! Die Milchkanne, die Grauchen und Blütenweiß ans Gatter gestellt haben, damit die Telefongesellschaft uns keinen Funkmast für die 5G-Abdeckung neben die Tanne baut. (Er schnaubt.)

Fixi (noch unschuldiger): Ich habe eure Milchkanne leider nicht gesehen, lieber Kohle.

Kohle: Huf!

Huf (zart): Ich schon gar nicht! Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.

Kohle (läßt ein Donnerwetter los): Also daß ausgerechnet ihr, die ihr immer sagt, es ist eure Weide und eure Zukunft, nun mit dafür sorgt, daß ebendiese Weide durch ein häßliches technisches Bauwerk verschandelt werden könnte, macht mich wirklich sprachlos! Schule schwänzen! Das könnt ihr! Aber wenn es darum geht, konkret Verzicht zu leisten …

Fixi (unterbricht ihn): Dann möchtest du also nicht wissen, warum du nicht ab nächsten Sonntag schon wieder Gänseblümchensalat essen darfst?

Kohle (wie ins Mark getroffen): Gänseblümchensalat?! (Er scheint zu halluzinieren.)

Fixi (zufrieden): Siehst du?! Das sogenannte „Osterparadoxon“ betrifft unmittelbar unseren Alltag.

Kohle (trabt schwankend auf die beiden zu): Was für ein Osterparadoxon?

Huf: Ist dir schon aufgefallen, daß heute Frühlingsanfang ist?

Kohle: Ääääh … jetzt, wo du’s sagst …

Fixi: … und morgen Vollmond?

Kohle: Tatsächlich?

Huf: Und daß du trotzdem noch volle viereinhalb Wochen weiter auf Flockes Gänseblümchensalat …

Kohle (unterbricht ihn weinerlich): Erwähne nicht immer Flockes Gänseblümchensalat! Wie konnte ich nur je auf den Gedanken kommen, Gänseblümchensalat zu fasten (er gräbt sein Gesicht in die Vorderläufe.)

Huf (redet einfach weiter): … verzichten mußt? Weil nämlich am Sonntag nicht Ostern ist?

Kohle (blickt trotzig auf): Genau! Eigentlich müßte am Sonntag Ostern sein und die Fastenzeit vorbei!

Fixi (auf der Zielgeraden): Und daß dem dennoch nicht so ist – das nennt man das „Osterparadoxon“.

Huf (zu Fixi): Hör mal! Was ist eigentlich, wenn der erste Frühlingsvollmond mit einer Mondfinsternis zusammenfällt? (großspurig) Hat sich darüber schon mal irgend jemand Gedanken gemacht?

Fixi (klimpert die entsprechenden Stichworte in die Suchmaschine): Äääähm … babababb … ja! Hier: „Halbschatten auf dem Ostervollmond!“ Dadada-daaaa! (Sie singt eine absteigende große Terz.) 2016. (Sie überfliegt den Teaser.) War aber für die Schafe in Europa nicht zu sehen.

Huf: Stimmt! Eine Mondfinsternis ist ja eben nicht unabhängig vom Schaf auf der Erde! Okay-okay-okay-okay! Mein Fehler!

Fixi (zieht die Augenbrauen nach oben und nickt): Sehr im Gegensatz zum Äquinoktialzeitpunkt! Der ist unabhängig vom Schaf.

Kohle (gereizt): Könntet ihr mal euren sophistischen Disput ruhen lassen, bis ihr mir erklärt habt, wie die ganze Sache überhaupt zu verstehen ist?

Huf: Wirklich verstehen wird fürchte ich schwierig. Es ist scheint’s total kompliziert!

Fixi: Aber im wesentlichen ist das Problem die mögliche Diskrepanz zwischen den astronomisch exakten und den zyklisch vorausberechneten Daten für den Frühlingsanfang, die Vollmonde und entsprechend die Sonntage danach. Wenn es dumm kommt, fallen einem die Mondzirkel auf die Hufe.

Huf: Die astronomisch exakten Daten würden nämlich von Zeit zu Zeit diesen Lunisolar-Kalkulationen einen Strich durch die Rechnung machen. Aber durch die Osterrechnung wird halt kein Strich gemacht! Wenn ich richtig sehe, haben nicht irgendwelche Aussaattermine die Kalenderreform angeregt, sondern das nicht mehr zuverlässig bestimmbare Osterdatum.

Fixi: Ja. Und die Berechnung des Osterdatums war so wichtig, daß sie an mittelalterlichen Universitäten den einzigen Inhalt der mathematischen Vorlesungen ausgemacht haben soll.

Kohle (anerkennend): Das nenne ich Prioritätensetzung! Aber helft mir nochmal: lunisolar?

Fixi: Ja. Ein Kalender, der sich zum Teil nach der Sonne und zum Teil nach dem Mond richtet, ist eben weder ein Lunarkalender noch ein Solarkalender, sondern eine Mischform: Lunisolar. Die beweglichen Kirchenfeste richten sich nach so einem Lunisolarkalender.

Kohle: Inwiefern?

Huf: 325, beim Konzil von Nicäa, wurde Ostern auf den Sonntag nach dem ersten Frühlingsvollmond festgelegt und der Frühlingsanfang auf den 21. März. Das war schon ein Riesenerfolg. Da hatte man schon jahrhundertelange Diskussionen hinter sich. Naja – und der Frühlingsanfang ist durch die Sonne bestimmt …

Fixi (unterbricht ihn): … genauer: durch die Tagundnachtgleiche, das Äquinoktium. Das Äquinoktium ist der Moment, in dem die Sonne – von einem hypothetischen Beobachter im Erdmittelpunkt aus gesehen – auf der Ekliptik den Himmelsäquator überschreitet. Das ist sekundengenau feststellbar.

Kohle: Hm!

Huf: Und der dazugehörige Vollmond wird ja nun mal durch den Mond bestimmt, durch einen von der Sonne vollständig unabhängigen Mondzirkel.

Kohle: Verstehe. Aber wo ist da heutzutage das Problem? Wenn sie sich Fotos vom Mars schicken lassen, wird es doch möglich sein, zu messen, wann Vollmond ist!

Fixi: Selbstverständlich ist es das. Schon 1582, als Gregor XIII den julianischen Kalender reformierte, konnte man die Daten genauer berechnen als 1.200 Jahre zuvor – ist ja klar. Deshalb wissen wir ja überhaupt, daß eigentlich nächsten Sonntag schon Ostern sein müßte. Aber man hielt an der Festlegung des Frühlingsanfangs am 21. März fest – und extrapolierte die Vollmondtermine aufgrund von Erfahrungswerten, also des über Jahrtausende hinweg beobachteten Mondzirkels.

Kohle: Aha! Und wann hätte diesem Zirkel nach jetzt Vollmond sein sollen?

Huf: Der Mond hinkt derzeit den zyklischen Berechnungen hinterher. Sollte noch heute voll gewesen sein, ist es aber erst morgen früh, so Viertel vor drei herum.

Fixi: Zwei Uhr zweiundvierzig und zweiundfünzig Sekunden.

Kohle: Und Frühlingsanfang auch?

Huf: Ja. Äquinoktium ist noch heute Abend um zweiundzwanzig Uhr achtundfünfzig. Aber festgelegt eben auf morgen.

Fixi: Da kann man nichts machen.

Kohle: Das kann doch nicht wahr sein!

Fixi: Unterschätz das Beharrungsvermögen der Mutter Kirche nicht! Die Bemühungen Pauls VI. während des Zweiten Vatikanischen Konzils, den gordischen Knoten durchzuhauen und das Osterdatum ein für alle Mal für die gesamte Kirche auf den Sonntag nach dem zweiten Samstag im April festzulegen, ist einzig am Widerstand der Mönche vom Berge Athos gescheitert. Aber wohl ziemlich final.

Huf: Ich sage dir: Der „Brexit“ ist nichts dagegen!

Fixi: Aber hör mal – wir müssen Schluß machen. Ich muß für Chemie noch was über Mondmilch raussuchen!

Huf: Jaja – die Mondmilch am Pilatus! Wo wir grad bei Ostern sind … (er lacht.)

Kohle (elektrisiert): Apropos Milch: Wo ist die Milchkanne?

ENDE

Cornelie Becker-Lamers

Ja, so geht’s zu in Wundersdorf. Aber die Lämmchen haben recht: Das Internet ist ein sehr praktische Erfindung. Gerade beim Thema Osterparadoxon ersetzt eine Stunde Wikipedia-Lektüre von Link zu Link vermutlich etwa einen Monat Bibliotheksrecherche.

Aber nochmal zurück zur Milchkanne: Nachdem sie sie endlich wiedergefunden und ans Gatter gehängt hatten, so daß der Mobilfunkanbieter unverrichteter Dinge wieder abzog, möchten uns die Schafe ihre Milchkanne leihweise zur Verfügung stellen.
Alle, die Internetauftritte und soziale Netzwerke im Zusammenhang mit gemeindlichen (Jugend-)Aktivitäten und der vielbeschworenen Neuevangelisierung für vollkommen nebensächlich halten – und davon gibt es in der Weimarer Pfarrei, wie ich festgestellt habe, überraschend viele an mehreren entscheidenden Stellen – dürfen sich die Milchkanne bei

Grauchen Schaf
Weide vor der Stadt
Große Schaftrift 3-5
15379 Wundersdorf

ausborgen.

Und so sieht das gute Stück aus:

Wundersdorfer Milchkanne, Höhe 25 cm, Durchmesser am Fuß 12 cm, Gewicht 257 gr, stufenlos verstellbarer Henkel. Kann mit etwas Glück die heute allgegenwärtigen Mobilfunkanbieter abschrecken. Tips zur genauen Vorgehensweise beim Bundesforschungsministerium (eigenes Bild)

Ein Trackback/Pingback

  1. Pulchra ut Luna › Die Internetmesse on Sonntag, 29. März 2020 um 22:25

    […] getan. Ein halbes Stündchen später sitzen die Langenfelds auf ihren Fahrrädern und biegen in die Große Schaftrift ein, die zur allseits bekannten Weide vor den Toren von Wundersdorf führt. Dort angekommen, […]

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