Zurüruck zum Inhalt

Wie die Steinlaus im Pschyrembel

Sensationeller Fund im Lochamer Liederbuch

Weimar. Musikwissenschaftlern des Sonderforschungsbereichs 482 “Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800” der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist am Wochenende ein sensationeller Fund gelungen: In einer bisher unbekannten Ausgabe des Lochamer Liederbuchs, die die Cotta’sche Verlagsbuchhandlung im Jahre 1802 vorgenommen hat, fand eine Doktorandin das Manuskript einer frühneuhochdeutschen Vater-Unser-Abschrift. Ersten vorsichtigen Schätzungen zufolge könnte die Handschrift aus dem späten 15. Jahrhundert stammen. Das Besondere an dem Notenblatt, das umgehend in die Obhut des Thüringer Landesmusikarchivs gegeben wurde und noch im laufenden Jahr restauriert werden soll, ist die Melodieführung des bekannten Sprechgesangs.

Seit den 1970er Jahren hatten Liturgiewissenschaft und Musikforschung übereinstimmend eine mittelalterliche Version der bekannten Vater-Unser-Melodie postuliert, die vierteltönig und daher in der üblichen Modal- und Mensuralnotation nicht notierbar gewesen sein soll. Nur in kleinen abgelegenen Gemeinden, die ihr Liedgut und die Sprechgesänge bis heute a capella (ohne Organisten) mündlich tradieren, habe sich diese alte Melodie erhalten, so die Wissenschaftler.
Aufgrund ihrer Komplexität sei die Melodie durch das Konzil von Trient (1545 – 1563) vereinfacht und auf die heute gebräuchliche, im Gotteslob (vgl. GL 589, 2) wiedergegebene Form gebracht worden. Die Vierteltöne seien harmonisiert und die Melodie im bekannten Notensystem notierbar gemacht worden.

Der Weimarer Fund, der in der Forschung auf den heutigen 1. April 2019 datiert wird, wäre das bisher einzige bekannte Exemplar des Versuchs einer Notation der alten überkommenen Melodie. Sie zeichnet sich durch Halbtonschritte in die Höhe und Ganztonschritte in die Tiefe aus, so daß der Melodiebogen im Laufe des Gebetes um fast eine Oktave absinkt. Aufgrund der Ausmerzung der Vierteltönigkeit und der Harmonisierung der Tonschritte durch das Tridentinische Konzil endet die heute gängige Melodie auf ihrem Ausgangston.

„Das Beenden der Melodie auf ihrem Ausgangston, also sozusagen das Halten der Stimmung, ist für den a capella-Gesang sehr untypisch“, so die Doktorandin zu PuLa. „Ich habe immer daran gezweifelt, daß das die ursprüngliche Melodie des Vater Unser gewesen sein soll. Das Textzeugnis aus dem Lochamer Liederbuch könnte der erste Nachweis einer älteren musikalischen Entwicklungsstufe dieses 2000 Jahre alten Gebetes sein. Es käme einer Sensation gleich! Wir werden das sorgfältig prüfen.“

PuLa wünscht allen Forschern eine glückliche Hand. 😉

Cornelie Becker-Lamers

Ein Trackback/Pingback

  1. Pulchra ut Luna › April, April! on Dienstag, 2. April 2019 um 22:21

    […] Fund des auskomponierten Sackens unbegleiteter Gemeindegesänge am Beispiel des Vater Unser geschrieben haben. Die Geschichte fiel mir irgendwann im letzten Sommer ein, als wir mal wieder urlaubsweise in einer […]

Einen Kommentar schreiben

Ihre Email wird NIE veröffentlicht oder weitergegeben. Benötigte Felder sind markiert *
*
*

*