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Legere sine intellegere est nec legere

Kalligraphie in der Weimarer Kunsthalle

Aaaah! Diesen Satz wollte ich schon immer mal via PuLa verbreiten: „legere sine intellegere est nec legere“ – „lesen ohne wahrzunehmen (zu erkennen/zu empfinden) ist vernachlässigen“ heißt er übersetzt. Aber wörtlich entbirgt dieser Satz im lateinischen Original eben viel mehr: Als ich ihn las (er war als Randglosse in ein spätmittelalterliches Manuskript gekritzelt, das ich als studentische Hilfskraft einmal in Auszügen zu transkribieren hatte), wurde mir bewußt, worüber ich zuvor nie nachgedacht hatte: Intellegere kommt von inter legere – dazwischen lesen, zwischen den Zeilen lesen und dadurch verknüpfen. Und neglegere – vernachlässigen – heißt eigentlich nec legere: nicht lesen.

Ich bin immer noch genauso elektrisiert wie damals, wenn ich an diesen Satz denke. Die Welt ist Text. Aber das wissen wir ja schon seit der Apokalypse: Rollt sich dort doch der Himmel auf „wie ein Buch“ (Apk 6, 14) und Gott selber bezeichnet sich nicht als – sagen wir: Frühjahr und Winter, sondern als „Alpha und Omega“, Anfang und Ende der Buchstaben (Apk 1, 8 u.ö.).

Was soll diese Geschichte auf einem Blog zum Thema „katholisch in Weimar“? Ich wurde gestern wieder an den Satz erinnert, als ich die Eröffnung der Ausstellung von kalligraphischen Werken eines unserer Gemeindemitglieder, nämlich Frau Gudrun Illert, in der Weimarer Kunsthalle besuchte.

Weimar, Kunsthalle Harry Graf Kessler, Vernissage zur Ausstellung „Linie – Form – Farbe – Struktur“ mit Werken von Gudrun Illert (eigenes Bild)

Sehr schöne Sachen – und alles, auch die scheinbar konkretesten Formen, sind abstrahierte Buchstaben. Wobei Gudrun Illert nicht nur Kandinsky-, Rilke- und Morgensterngedichte in für jeden Text eigens gefundenen Buchstaben zum Teil so verfremdet in Künstlerbüchern und Papierarbeiten festhält, daß die Betrachtenden zum langsamen und daher aufmerksamem Lesen gezwungen sind: Die Kontemplation der Worte ist in die Betrachtung der Schrift-Bilder integriert. Man nimmt Worte oder Verse dadurch ganz anders auf, liest auch zuweilen laut, während man sich die Schrift gemeinsam mit anderen Ausstellungsbesuchern erschließt.

Und Gudrun Illert schreibt zwischen den Zeilen. Einige ihrer Werke geben den Zwischenraum der Buchstaben wieder, das Negativ der Schrift, ein Kippbild der Verse: Inter-legere. Ein sehr schönes Œuvre und eine schöne Ausstellung, die am kommenden Wochenende mit der 7. „Buchkunst Weimar“ in der Weimarhalle mit einer großen Präsentation von Künstlerbüchern verschiedenster Maler und Grafiker ihre Fortsetzung findet.

Cornelie Becker-Lamers

 

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