Ein Sketch für drei Personen
Wir befinden uns im 35. Jahr der segensreichen Regentschaft Ottos IV. („mit dem Pfeil“), Markgraf von Brandenburg aus dem Geschlecht der Askanier. Es ist der 25. Tag des Winnemanot. Die Christenheit feiert das Hochfest Fronleichnam. In der kleinen Ansiedlung Tschudowitz im Oderbruch herrscht reges Treiben. Der neue Pfarrer – Conradus von Mihildorpa hatte sich zunehmender Zwistigkeiten in der Pfarrei zufolge vor Jahren zum Dienst im Siechenhaus abberufen lassen und geistert nur von Zeit zu Zeit noch in und um seine alte Wirkungsstätte herum – möchte alles für die feierliche Prozession vorbereiten. Die „Bärin“ steht ihm dabei wie eh und je zur Seite. Außerdem erwartete den neuen Pfarrer schon bei Dienstantritt ein lustiger Spielmann als Scriptor, als Ansprechpartner der Dorfbewohner und überhaupt zur allgemeinen Verbesserung der Laune.
Zum leichteren Verständnis ist die in polabischer Sprache geführte Unterhaltung in heutigem Deutsch wiedergegeben.
Der Spielmann (singt): „Ihc wil singhen in der nuwen wise/ eyn let von dem der mich ghemachet hat/ der mach mir nemen unde gheben waz her wil.“
(Er tritt einen Blasebalg, der Luft in mehrere unterschiedlich durchlöcherte Pfahlrohre führt und bläst zugleich auf einem kleinen geschnitzten Flötchen.)
Der Pfarrer (tritt an die Tür und stiert düster hinaus in den Regen): Es gießt in Strömen!
Die Bärin (trägt einen schlichten, aber dichten Regenschutz aus der Kammer in den Raum): Ich hab das Pluviale schon herausgeholt und ausgebessert. (Sie breitet den halbkreisförmigen Mantel auf dem Tisch aus.)
Der Pfarrer (schließt die Tür und tritt zurück in den Raum): Wir können heute keine Prozession gehen! Wir müssen in der Kirche feiern.
Die Bärin: Ausgeschlossen! Wir sind doch nicht aus Zucker. Und die Leute auch nicht.
Der Pfarrer: Wir gehen nicht.
Die Bärin: Der Baldachin für das Allerheiligste steht in der Scheune vom alten Labun. Alles ist bereit!
Der Pfarrer: Es ist zu naß.
Die Bärin (barsch): Sind wir vielleicht eine Schönwetterreligion? Wenn wir die Menschen für uns gewinnen wollen, müssen wir schon nach draußen gehen und uns zum Herrn bekennen.
Der Pfarrer: Dieses neumodische Fest! Wir müssen sowieso nicht alles nachmachen, was aus dem Westen kommt!
Die Bärin: Es wurde immerhin vor über 30 Jahren vom Papst für die ganze Kirche verbindlich eingeführt.
Der Pfarrer: Was sind 30 Jahre?
Der Spielmann (singt leise vor sich hin): „Kåtü mes ninkă båit?/ Ťelka mes ninkă båit./ Ťelka rici/ Våpăk kå naimo kå dvemo:/ Joz jis vilťĕ grüznă Zenă;/ Nemüg ninkă båit/ Joz nemüg ninkă båit.“
Von draußen hört man ein charakteristisches Klappern: Die Leprösen kommen und betteln, wie es ihr Privileg nur an Feiertagen ist.
Die Bärin (horcht auf): Was ist das für ein Geräusch?
Der Spielmann (unterbricht sein Spielen und horcht ebenfalls): Ah! Das sind die neuen Kl-App-ern der Infizierten.
Die Bärin: Die was?
Der Spielmann: Die Kl-App-ern. Die Infizierten sollen alle anderen in ihrer näheren Umgebung auf sich aufmerksam machen. Dazu haben sie von der Herrschaft aus jetzt Kl-App-ern ausgegeben. (Er lauscht.) Ich finde, der Klang hat was … so rein vom Musikalischen her …
Die Bärin: Willst du mich ver-apple-n?
Der Spielmann (unschuldig): Aber nein! (Er stellt seine kleine Orgel beiseite, lächelt die Bärin an und erhebt sich.)
Der Pfarrer: Hast du schon die Sachen rausgelegt, falls die Siechen wieder ihre Handschuhe für die Brücken- und Treppengeländer vergessen haben?
Der Spielmann: Es liegen L-App-en und alles bereit. Wir sollten die Kranken aber nicht so aussondern …
Der Pfarrer: Jetzt auch das noch! Es reicht! Wir haben die Anweisung, Menschen bei den geringsten Anzeichen der Krankheit an den Kirchentüren abzuweisen. Basta!
Der Spielmann (vorsichtig): Vor hundert Jahren hat ein frommer Mönch …
Der Pfarrer: Ich will nichts hören! (Er tritt wieder unter die Tür und sieht hinaus.) Leg die Pfennige und das Hacksilber zurecht, dann haben wir unserer Pflicht genüge getan. (Er tritt in den Regen hinaus.)
Der Spielmann (halb für sich): Die schöne Elisabeth von Thüringen … (die Bärin unterbricht ihn mit einer Geste ihrer Hand.)
Der Pfarrer (tritt zurück in den Raum, zur Bärin): Vielleicht hast du recht. Von Westen her scheint es aufzuklaren. Wollen wir mit Gottes Hilfe die Prozession durchführen. Zuvor laßt uns beten. (Alle drei knien sich hin und stimmen in das Gebet ein, das der Herr uns zu beten gelehrt hat):
Nos Fader, tå tåi jis vå nĕbiśai,
sjǫtă vårdă tüji jaimă;
Tüjă rik komă;
Tüjă viľă šinót, kok vå nĕbiśai, tok kăk no zimě;
nosėj vėsědanesnă sťaibě doj-năm dans;
un vitědoj-năm nos grex, kăk moi vitědojimě nosěm gresnărüm;
un ni brinďoj nos kå farsükońě;
tåi lözoj nos vit vėsokăg x́audăg.
Pritü tüje ją tü ťenądztwü un müc un câst, warchni Büzac, nekąda in nekędisa.
Amen.
ENDE
Cornelie Becker-Lamers
PS: Ja, liebe Leser. Was für eine Geschichte! Sie ist diesmal wirklich frei erfunden und etwaige Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig. Es sollen keinesfalls Geschehnisse abgebildet werden, die sich tatsächlich ereignet haben. Was man schon daran sieht, daß die Fronleichnamsprozession in Herz Jesu Weimar am vergangenen Sonntagmorgen tatsächlich ausgefallen ist. Und was man daran sieht, daß es in Tschudowitz im Mittelalter ansteckend Kranke gab, die auf sich aufmerksam machen mußten, nur gegen den Wind sprechen und nur mit Handschuhen über die Brücke gehen durften. Damit sie das Geländer nicht kontaminieren. In Herz Jesu Weimar ist niemand ernsthaft ansteckend krank. Seit Tagen oder Wochen. Da sind die Schutzmaßnahmen – nichts und niemanden anfassen und am besten nicht ausatmen – nur noch aufgrund der Trägheit des Systems noch nicht aufgehoben.
Aber eines ist schon historisch, was ich verwendet habe – und das sind die Lieder, die der Spielmann singt. Ein geistliches Lied des Minnesängers Witzlaw, überliefert in der sehr sehr alten Jenaer Liederhandschrift aus dem frühen 14. Jahrhundert. Witzlaw wird mit Witzlaw III., dem letzten slawischen Fürsten auf Rügen, identifiziert. Dieser soll auch die Vogelhochzeit (das „Kåtü mes ninkă båit?“) verfaßt haben, die der Spielmann hier singt und die neben dem polabischen Vater Unser eines der letzten erhaltenen Sprachdenkmäler dieser ausgestorbenen slawischen Sprache ist.
Ach übrigens – Weimar! Auch … raten Sie, wer? Natürlich! Johann Wolfgang von Goethe hat sich dieses Liedtextes bedient, und zwar für sein frühes Singspiel „Die Fischerin“, das am 22. Juli 1782 im Tiefurter Park uraufgeführt wurde. In der Vertonung von Mademoiselle Schröter. – Wie bitte? – Jaja, genau: CORONA Schröter. 😛
Einen Kommentar schreiben