Gedanken über das Zitat zum Tage
„… also: Weimarer“. Es ist das Zitat zum heutigen Tage, wenn es um die Weimarer katholische Gemeinde und die Frage nach Wiedervereinigung und Zusammenwachsen geht. Es stammt von unserem Pfarrer, ist anderthalb Jahre alt, öffentlich geäußert und ging mir schon im vergangenen Jahr häufig durch den Kopf. Es ging mir durch den Kopf, als ich zum Gemeindefest im Juni 2019 im Pfarrgarten am Infostand der „Cäcilini“ saß und mich umschaute. Es ging mir durch den Kopf, als Journalisten im Deutschlandfunk im Vorfeld der drei mitteldeutschen Landtagswahlen über „die Menschen in den neuen Bundesländern“ räsonierten. Und es ging mir durch den Kopf, als um den 9. November 2019 herum – da hatten wir ja schon mal eine 30-Jahr-Feier – Gregor Gysi im Bundestag noch einmal ans Rednerpult trat, um festzustellen, daß „die Schere zwischen Ost und West“ wieder weiter auseinandergehe.
„… also: Weimarer“: Worum geht es? Anläßlich des Gottesdienstes, den Radio Horeb am 10. März 2019 aus Weimar überträgt, ist Herz Jesu Weimar auch Pfarrei der Woche und unser Pfarrer bekommt im Rahmen eines Interviews eine Dreiviertelstunde Redezeit im Radio. Zunächst muß er über Goethe reden und über Historisches, über das Verschwinden des katholischen Ritus im Kernland der Reformation und über sein Wiedererstarken seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Soldaten. Arbeiter. Liszt. Und dann natürlich die vielen Vertriebenen. Es ist ein bißchen mühsam. Woher soll ein Pfarrer das alles wissen? Um Minute 7:10 herum fragt die Redakteurin endlich nach der Rolle der Wessis. So formuliert sie es natürlich nicht. Sondern sie fragt, wie die Situation sich entwickelt habe in den letzten Jahrzehnten, seit es die DDR nicht mehr gibt.
Da blüht unser Pfarrer plötzlich auf. Es sprudelt nur so aus ihm heraus. Jetzt hat er sicheren Boden unter den Füßen. Das hat er ja selber erlebt, da ist er zuhause. Und was er nicht mehr erlebt hat, hier in seiner Pfarrei, davon hat man ihm vorgeschwärmt. Wie der Generalmusikdirektor der Staatskapelle Vorträge hielt über die Sinfonien von Gustav Mahler. Dazu hatte der GMD gerade ein Buch herausgebracht. Wie eine junge österreichische Habilitandin an der Universität Erfurt einen Bibelkreis ins Leben gerufen hat, der bis heute existiert. Wie ein aus Passau gebürtiger Orgelprofessor Jahre daran gesetzt hat, um unserer Kirche eine neue Orgel zu schenken – ein Millionenobjekt! – eine Orgel, maßgeschneidert auf das Werk Franz Liszts, Franz Liszt, das habe er, der Pfarrer, ja schon erzählt, welche Rolle dieser weltgewandte Komponist für die Weimarer Pfarrei gespielt hat, und da sollen doch seine liturgischen Werke auch endlich hier in Weimar wieder zu Gehör kommen. Einfach in den Messen – ist das nicht toll? Jeder Sonntag ein Konzert! Und der Präsident der Klassikstiftung! Der ist nämlich auch katholisch. Der hat ihn durch einen Vortrag zum Kirchweihjubiläum überhaupt erst auf die Idee zu seinem monatlichen Herz Jesu Lobpreis gebracht. Phantastische Leute, hier! Pensionierte Lehrer, die Lituratur- und Lesezirkel anbieten; eine ehemalige Gymnasialdirektorin gar – unterrichtet Latein. Alles ehrenamtlich! Kultur und Bildung für alle! Seinen Kirchenchor leitet seit einigen Jahren ein ehemaliger Regensburger Domspatz, das soll die Redakteurin sich mal vorstellen – dieses Wissen, diese künstlerische Kompetenz, diese liturgische Sicherheit, die dieser Mann vermitteln kann und die ihm, dem Priester, natürlich in den großen Festmessen unglaublich den Rücken frei hält! Überhaupt – Singen! Da ruft eine Mutti endlich einmal wieder eine Kinderschola ins Leben – und statt nur die RKW-Lieder durchzusingen, beginnt sie zu komponieren! – Einfach so? wirft die Redakteurin ein. Einfach so, antwortet der Pfarrer, soweit er weiß! Nach ein paar Jahren führt sie zu den Gemeindefesten Singspiele mit den Kleinen auf und veröffentlicht ihre Werke. – Was für ein Identifikationsangebot für die ganze Pfarrei! Sagt die Redakteurin. – Das könne sie laut sagen, sagt der Pfarrer. Von ihrem Krippenspiel 2016 reden die Menschen heute noch. Aber Komponisten habe er ja ohnehin so viele hier in der Pfarrei! Das Weihnachten drauf – Alphornmesse! Ob die Redakteurin schon mal ein Alphorn gesehen habe? Ein riesen Teil! Irre! Aber das nur nebenbei. Studierte Sängerinnen gründen Jugend- und Kinderchor und gewinnen regionale Wettbewerbe mit der Gruppe. „Goldkehlchen“. Eine Dame leitet bestimmt 15 Jahre hindurch einen Seniorenkreis, der jede Woche Konzerte, Vorträge und anderes Programm bietet. Eine Wahnsinnsleistung! Strahlt natürlich weit in die evangelische und sogar in atheistische Welt hinein, da treffen sich nicht nur Katholiken! Ja! Und dann natürlich die Mütter, die die religiösen Kinderwochen betreuen und in ihren Wohngebieten große Gruppen von Sternsingern um sich scharen. Unverzichtbar. Eine Gewandmeisterin des Theaters näht mit einer Gruppe von Freundinnen jedes Jahr neue Sternsingergewänder. Wie die Könige sehen Kinder aus – wirklich wie die Könige!
Die Redakteurin muß den Pfarrer langsam bremsen. Die Sendezeit! Alles Ihre Pfarrkinder? fragt sie abschließend. – Alles meine Pfarrkinder! antwortet der Pfarrer stolz. – Und alles Zugezogene? – Aus den alten Bundesländern! – Ehrenamtlich tätig? – Alle ehrenamtlich tätig! – Meine Güte! Da sei er aber gesegnet! In anderen Pfarreien sei man froh, wenn man einen Taizéabend auf die Beine stellt … – Das haben wir hier außerdem! sagt der Pfarrer. Da mache er selber mit. Aber er sei den andern unendlich dankbar, daß sie so viele Bereiche für die Gemeinde abdecken. Er habe ja schon gesagt: Weimar wächst. Zwei Hochschulen am Ort! Und die Leute pendeln von hier auch nach Erfurt und Jena. Und die ganzen Professoren und Ministerialen – die setzen sich ja nicht alle unbedingt nur in so eine Meditation. Taizé sei ja schon sehr speziell, das liege nicht jedem. Da müsse er auch etwas anderes anbieten, um diese Leute und ihre Familien einzubinden. Denn die Kontakte, die diese Leute einfach auch haben! Es wäre wirklich eine Sünde, wenn er das für seine Pfarrei nicht zu nutzen wisse! Und darüber hinaus seien das ja die Leute in einem Alter, wo auch Schulkinder in den Familien da sind. Kinder und Jugend – die Zukunft jeder Pfarrei! – Na, wenn Sie das so managen, sagt die Redakteurin, – dann haben Sie Ihrem Bischof ja wirklich nicht zuviel versprochen, als Sie ihm sagten, daß Sie sich Weimar zutrauen!
Cornelie Becker-Lamers
4 Trackbacks/Pingbacks
[…] langem langem Nachdenken und Durchleiden entstanden sind, ist die siebenteilige Reihe, die mit „Also: Weimarer“ überschrieben ist und deren erster Teil am 3. Oktober 2020 zum 30. Jahrestag der […]
[…] wenn es noch Jahre bedurfte, um diese Erkenntnis gültig formulieren zu können (wie es Cornelie hier getan hat), und ihr volles Ausmaß zu umschreiben. Die Zukunftslosigkeit dieses “Systems”, der […]
[…] Entfremdung zwischen Freunden. Es war schwer zu akzeptieren, daß die „also: Weimarer“ „ … also: Weimarer“ nur exakt ein halbes Jahr gebraucht hatten, um den neuen Pfarrer ‚einzunorden‘ und der […]
[…] die zwingend notwendige Aufarbeitung der Vergangenheit aussteht, dazu hat Cornelie erst kürzlich viel geschrieben und wird es in ihrem Beitrag zu zehn Jahren PuLa auch noch einmal […]
Einen Kommentar schreiben