Sie wissen schon: Gedanken über das Zitat zum Tage (zum 3. Oktober 2020)
Intim. Intimidé
„Ich glaube fast, daß die Kirche jetzt die letzte DDR-Nische ist“, zitiert Ronald Jost, gebürtiger Jenenser, als Dreijähriger mit den Eltern ins Rheinland geflohen und nach der Wende zurückgekehrt, 2019 die gesprächsweise geäußerte Feststellung eines Freundes. Eine ähnliche Beobachtung haben wir schon vor sechseinhalb Jahren in einem Sketch verarbeitet. Es stimmt: Die Bemühungen der „also: Weimarer“, zum „Wir sind doch unter uns“ zurückzufinden, haben auch 2015 mit dem Wechsel im Amt des Pfarrers nicht aufgehört. Und nun versteht man auch, warum sich das ‚Regime‘ der ehemaligen stv. Vorsitzenden des KV überhaupt so lange halten konnte. Die Richtung stimmte für nahezu alle damaligen Gremienmitglieder. Nur als man aus der usurpierten Chefetage auch ihre, der Gremienmitglieder, eigene Pfründe beschnitt, wurde es lästig.
Ein Ergebnis der langjährigen Arbeit der „also: Weimarer“ ist das Gemeindefest 2019, das in seiner betont improvisierten Art etwas so – wie soll ich sagen: ‚Intimes‘ hatte, daß jeder etwaige Gast oder neu Zugezogene sich hätte fehl am Platze fühlen müssen (wenn ich recht gesehen habe, war allerdings auch niemand Neues da). Wenn eine Handvoll zusammengewürfelter Erwachsener ungeprobt auf einer Bühne zu des Pfarrers Gitarrenakkorden „Hoch auf dem gelben Wagen“ singt, berührt mich persönlich das zumindest seltsam. Und man vergibt sich dadurch gute Chancen, in der Stadt und der Lokalpresse als Gesprächsthema vorzukommen (was ja für eine katholische Gemeinde im Sinne der vielgepredigten „Neuevangelisierung“ eigentlich ganz praktisch wäre): Ein wie auch immer einstudiertes Programm kann da ganz anders integrieren: Ob das ein christliches Theaterstück von Kindern ist oder die Aufführung eines Jugendchores, ob es ein Vortrag ist oder ein kleines Konzert auf der Orgel der Pfarrkirche, eine Kirchenführung mit Erläuterungen etwa der vielfältigen Fenster oder einige Stücke, die der Kirchenchor singt. Was auch immer.
Zur Aufführung des Kindermusicals „Rut“ durch die Cäcilini (die damals noch nicht so hießen) kamen, weil man zu einem solchen Programmpunkt eben auch vernünftig einladen konnte, im Jahr 2011 neben vielen Gemeindemitgliedern nicht nur die Presse, sondern außerdem ‚Himmel und Menschen‘ aus der Stadt, der Hochschule, den Schulen und Horten der Kinder und natürlich aus verschiedenen christlichen Gemeinden (auch damals allerdings schon kein Mitglied unseres eigenen Pfarrgemeinderats).
Ein Programm kann integrieren, denn nach Vorträgen und Theaterstücken können auch Menschen ein Gespräch anknüpfen, die nicht seit 20 Jahren dieselben Leute kennen: Zugezogene. An geprobten Konzerten können auch Fremde innerlich Anteil nehmen – weil die Kultur uns verbindet. Aber – Hand aufs Herz: Was tut man als Außenstehender mit einem Stegreifchor, der zu Gitarrenklängen aus dem „Poverello“ singt – außer warten, daß es aufhört?
Und die Kinder?
Im Jahr 2019 aber ist man wieder beim Pfarrfest als verlängertem Familienkaffeetisch angekommen, den man offenbar so lange vermißt hatte. Woran das eigentlich Tragische natürlich ist, das genau die, die zehn bis zwanzig Verwandte ersten und zweiten Grades am Ort zu wohnen haben, offenbar vollständig übersehen, daß sie jenen die Beheimatung in der Pfarrei verweigern, die sie wirklich dringend brauchen: den Kindern und Jugendlichen, deren nächste Angehörige über die eigene Kleinfamilie hinaus in 400 km Entfernung leben.
Wir haben Verständnis für Ostalgie. Und natürlich kommt sie auch in einer katholischen Gemeinde vor. Aber wir möchten auch Verständnis wecken für diejenigen, die eben nicht in einer Großfamilie vor Ort (oder überhaupt irgendwo) verwurzelt sind und neue Wurzeln für ihre Kinder finden müssen. Und das dürfte für die nach der Wende in die neuen Bundesländer Gezogenen noch schwieriger sein als für die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich denke, die Integration jener Familien mußte man nach der Wende noch viel durchdachter organisieren als die der Vertriebenen. Die Vertriebenen kamen doch häufiger in Gruppen. Ganze Familien wurden einer Stadt zugewiesen, ganze Ortschaften hatten sich gemeinsam auf den Weg machen müssen. In diesen Gruppen verband alle dasselbe Trauma.
Die Migrationsbewegung nach der Wende – von West nach Ost wie umgekehrt – verschob hingegen einzelne Menschen auf einen neuen Arbeitsplatz oder ins Studium. Jede und jeder aus einer anderen Gegend. Jede und jeder aus einem anderen Umfeld. Jede und jeder mit einer anderen individuellen Geschichte. Wenn traumatisiert, dann jede und jeder mit einem anderen Trauma. Wie eine Freundin über die Weimarer Pfarrei immer sagt: So viele Individualisten. Stimmt. Viele von uns wären sonst aber auch gar nicht hier.
Und ausgerechnet für diese Nicht-Gruppe der aus den alten Bundesländern Zugezogenen hat man die Idee organisierter Familienkreise in Herz Jesu Weimar aus der Mode kommen lassen. Schon 2014, noch in der Phase der zweijährlichen Firmtermine, aber auch 2019 wieder gab es keine Tischmütterkreise in den Firmkursen mehr. „Zu viel Arbeit“, war die offizielle Erklärung beim Elternabend (mir unverständlich, da man ja etwa vier Unterrichtsstunden in die Hauskreise verlagert). Diese Tischmüttergruppen waren eine punktuelle, aber immerhin eine Gelegenheit, einmal mit diesem oder jenem anderen Jugendlichen zu sprechen (die man ja in Gymnasialzeiten auch nicht mehr vor der Schule sieht, weil man das eigene Kind nicht mehr abholt). Und da erwartet wird, daß man für den Chor, den der Pfarrer z.B. vollmundig beim pueri-cantores-Fest anmeldet, die Chormitglieder selber findet, sollte es wenigstens die kleinen organisatorischen Hilfestellungen solcher Gesprächsmöglichkeiten doch wieder geben.
Man ruft eine Messe für die Firmbewerber aus, läßt in dieser die Firmlinge sich aber nicht mehr namentlich vorstellen: Wieder ein kleines Kettenglied, das für den Zusammenhalt und das Nachwachsen der Gemeinde auf Dauer fehlt. Zur Firmfahrt schickt man die Heranwachsenden seit drei Jahren nach Taizé (und ein Ende scheint nicht absehbar), wo die Weimarer Jugendlichen unter die Teilnehmer anderer Länder gemischt werden und ebenfalls als Gruppe nicht zusammenwachsen können – wir haben das Problem schon beschrieben.
Tja – und dann gibt es irgendwann eben keine Jugendgruppe mehr. Und wenn es keine Jugendgruppe mehr gibt, besuchen auch nur die wenigsten Jugendlichen weiterhin die Heilige Messe. Wodurch die Gemeinde niemanden von ihnen mehr zu Gesicht bekommt und man die personalisierten Gottesdienste um so dringender bräuchte, um jegliche innere Anteilnahme an der nachfolgenden Generation nicht völlig ins Blaue hinein zu empfinden. Es ist eine Abwärtsspirale und Herz Jesu Weimar ist ganz unten angekommen. Außerhalb der WWF (Winzigen Weimarer Freundeskreise) kennt niemand mehr irgendwen – auch, und das wissen sie, auch die „also: Weimarer“ nicht.
Wenn man nun weiß, daß bis vor 30 Jahren die katholische Pfarrjugend explizit dazu gedacht war, katholische Ehen zu stiften (!), wenn man weiterhin weiß, daß dies noch vor zehn Jahren hier in Weimar tatsächlich genau so funktionierte
und 2019 erfahren muß, daß es für die Firmlinge nicht mal mehr sinnvoll sein soll, die eigene Peergroup kennen zu lernen (es war schon ziemlich bitter, was mir an Spott und Schnoddrigkeit entgegenschlug, als ich angesichts der desolaten Situation und meines direkt betroffenen Kindes wiederholt vorschlug, vielleicht doch einmal eine Rundmail an die Firmlingseltern herumzusenden und mit ein paar Leuten Ideen zu sammeln – ich hatte und habe auch selber welche – um einfach wieder auf eine ‚kritische Masse‘ zu kommen, die andere anziehen kann …), wenn ich mir diese Zeitschiene vor Augen halte, dann ging mir der Absturz ein bißchen zu schnell, um an eine Entwicklung zu glauben. Auch nicht an eine Fehlentwicklung.
Vielmehr mache ich Fehlentscheidungen dafür verantwortlich. Fehlentscheidungen, die m.E. mit der Fehleinschätzung zusammenhängen, die „also: Weimarer“ seien nach wie vor der wesentlich tragende Kern der Pfarrei. Zur Erinnerung: Die „Vertriebenengeneration“ ist heute zwischen 85 und 105 Jahre alt. Deren Kinder sind die noch in Familienkreisen organisierten 55-75-jährigen. Die Enkel sind häufig nicht mehr am Ort. Wo sie es noch sind, wären mittlerweile die Urenkel der Vertriebenen der jugendliche Nachwuchs in der Pfarrei. Beispiele wie die Bemühungen um Kantorennachwuchs haben aber gezeigt, daß nicht mal in der Familie, in der man den sprichwörtlichen ‚Papst zum Vettern‘ hat, diese Urenkel noch bereit sind, in der Pfarrei weiterhin eine/ihre Rolle zu spielen: Wer Heimat hat, muß sich nicht bemühen. Wer Heimat sucht, ist bereit, unendlich viel zu investieren.
Die Zukunft der Pfarrei lag m.E. deshalb wesentlich auch in den Kindern der Zugezogenen. Die „also: Weimarer“ haben diese Zukunft durch die Ausgrenzung der zugezogenen Eltern in den vergangenen zehn Jahren verspielt. Realisiert das jemand? Ich habe bei dieser Frage immer das Gefühl: Es brennt und mancher Verantwortliche wärmt sich am Feuer.
„also: Weimarer“. Die Abschlußfrage
„Die Vertriebenengeneration und ihre Kinder – also: Weimarer“, so hat es der Pfarrer im Interview formuliert. Zum Thema Jugend in Herz Jesu Weimar lautet eine ernstgemeinte Frage (wie sie ganz ähnlich übrigens in den letzten Wochen auch die Weimarer Lokalpresse umkreiste): Was sind eigentlich, in der Außenwahrnehmung durch die „also: Weimarer“, die hier geborenen Kinder der aus dem Westen Zugezogenen? Sind das auch „also: Weimarer“? Oder sind das „Wessis“?
Fortsetzung folgt übermorgen
Cornelie Becker-Lamers
PS: Immer, wenn ich angesichts von so klugen Sätzen wie “Die Richtung stimmte für nahezu alle damaligen Gremienmitglieder. Nur als man aus der usurpierten Chefetage auch ihre, der Gremienmitglieder, eigene Pfründe beschnitt, wurde es lästig”, über die damalige Zeit nachdenke, drängt sich mir eine doppelte Beobachtung auf:
1) Sie haben damals den Regimewechsel ja in keiner Weise aus sich heraus hinbekommen, der so definierte größere Teil der “also: Weimarer”! Nein, der mußte letztlich von außen erzwungen werden (und gelang selbst dann vollends nur dank großen “Glücks”).
2) Die, für die es heute möglich ist, sich, sagen wir, mit dem Generalschlüssel durch die pfarrlichen Liegenschaften zu bewegen (was “früher” eben nur für genau eine Person denkbar war), sie müßten uns für unseren Anteil an der Veränderung eigentlich mehr als dankbar sein…
Daß sie es, “natürlich”, nicht sind, unterstreicht erneut allzu deutlich die Analogie dessen, was hier stattgefunden hat, mit anderen historischen Entwicklungen: Ja, es war eine Art “Revolution” und die Nutznießer solcher Umwälzungen sind den “Revolutionären” eben nur in den seltensten Fällen dankbar.
Es ist wohl wirklich kein Zufall, daß wir uns hier am besten mit Menschen verstehen, die auch schon früher widerständig gewesen sind.
Gereon Lamers
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