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„Ich hab die Nacht geträumet“ (2/3)

Notizen zu einem Volkslied und seinem Text

Das „Ich hab die Nacht geträumet“, unter dem Titel „Der schwere Traum“ 1894 festgehalten in Erk/ Böhme (Hg.) „Deutscher Liederhort“ (Quelle hier)

Ausgangs des ersten Teils hatte ich die Keuschheit und Schlichtheit der Volkspoesie problematisiert, da ein Musikrezensent mit diesen Argumenten Regers Vertonungen als erstickend kritisiert hatte. Wenden wir uns nun also dem Text von „Ich hab die Nacht geträumet“ – oben abgedruckt unter dem Titel „Schwerer Traum“ – zu. Im Garten des lyrischen Ich, so eröffnet die Traumerzählung, wächst ein „Rosmarienbaum“. Der Garten entpuppt sich als Friedhof und ein Beet als Grab. Blüte und Krone brechen vom immergrünen Rosmarin.

Die Metaphern des Gartens und des Beetes werden in Strophe 2 unmittelbar aufgelöst. Das erste Schlüsselwort des Gedichts, mit dem auf der Bildebene weitererzählt wird, ist deshalb der Rosmarin. Es folgen Dingsymbole wie der goldene Krug, der in Stücke geht und die Perle. Beginnen wir mit dem Anfang.

 

Rosmarin

Rosmarin also. Eine symbolträchtige Pflanze. Was bedeutet sie in diesem Text?

„Rosmarin wird in diesem Text als Symbol des Todes verwendet“, vermuten Verfasser oder Verfasserin des Wikipedia-Artikels zu unserem Lied. In der Tat ist als Folgelied des „Schweren Traumes“ bei Erk/ Böhme ein Lied mit dem Titel „Rosmarin“ abgedruckt, das diese Bedeutung nahe legt:

Das Folgelied zum „Schweren Traum“ bei Erk/ Böhme (Nachweis s.o.)

Der Kommentar der Herausgeber (s. Bild) konzediert dem Rosmarin (ohne „e“, da aus „ros marinus“ entlehnt) besonders edle Kräfte, die der Volksglauben ihm zuschreibe. Dennoch wird die Pflanze als Symbol der Trauer apostrophiert, da sie zu Beerdigungen Verwendung finde.

Der Einsatz auf Friedhöfen und zu Traueranlässen kann jedoch auch gerade auf eine belebende Kraft des Rosmarin verweisen. Das schon aus dem Mittelalter bekannte, immer wieder vertonte und zitierte „Streitlied zwischen Leben und Tod“ legt dem Leben die besseren Argumente in den Mund und läßt es den Sieg über den Tod davontragen:

So spricht das Leben: Die Welt ist mein,
mich preisen die Blumen und Vögelein,
ich bin der Tag und der Sonnenschein.
So spricht das Leben: Die Welt ist mein.

So spricht der Tod: Die Welt ist mein,
dein Leuchten ist nur eitel Pracht,
sinkt Stern und Mond in ewge Nacht.
So spricht der Tod: Die Welt ist mein.

So spricht das Leben: Die Welt ist mein,
und machst du Särge aus Marmorstein,
kannst doch nicht sargen die Liebe ein.
So spricht das Leben: Die Welt ist mein.

So spricht der Tod: Die Welt ist mein,
ich habe ein großes Grab gemacht,
ich habe die Pest und den Krieg erdacht.
So spricht der Tod: Die Welt ist mein.

So spricht das Leben: Die Welt ist mein,
ein jedes Grab muß Acker sein,
mein ewiger Samen fällt hinein.
So spricht das Leben: Die Welt ist mein.

Pflanzen auf Friedhöfen und den einzelnen Gräbern und Blumen zu Beerdigungen symbolisieren genau das: Das Leben triumphiert über den Tod. So könnte der Rosmarin auch wegen seiner immergrünen Blätter zum Friedhofsbaum geworden sein. Zumal insgesamt die Hinweise auf die belebende Wirkung des Rosmarin meiner Recherche nach deutlich überwiegen.

 

L’eau de la reine de Hongrie

In Charles Perraults Erzählung „La Belle au Bois dormant“, dem maßgeblichen Vorbild des Dornröschen-Märchens von Jacob Grimm, spielt ein Rosmarin-Wässerchen zu einem entscheidenden Zeitpunkt eine wichtige Rolle:

Elle n’eut pas plutôt pris le fuseau, que, comme elle était fort vive, un peu étourdie et que d’ailleurs l’arrêt des fées l’ordonnait ainsi, elle s’en perça la main et tomba évanouie.// La bonne vieille, bien embarrassée, crie au secours : on vient de tous côtés, on jette de l’eau au visage de la princesse, on la délace, on lui frappe dans les mains, on lui grotte les tempes avec de l’eau de la reine de Hongrie: mais rien ne la faisait revenir.  

Zu deutsch: „Kaum hatte sie die Spindel angefaßt, als sie sich, lebhaft und ein wenig rasch, wie sie war, und da es im übrigen nun einmal der Spruch der Feen so wollte, damit in die Hand stach und ohnmächtig zu Boden sank.// Die gute Alte ruft ganz bestürzt um Hilfe, und von allen Seiten eilt man herbei, man schüttet der Prinzessin Wasser ins Gesicht, öffnet ihre Kleider, klatscht in die Hände, reibt ihr die Schläfen mit allerlei Rosmarin-Wässerchen ein, doch nichts vermag sie ins Leben zurückzurufen.“

Feenzauber: Nicht einmal Rosmarin vermochte sie ins Leben zurückzuholen („Sleeping Beauty“, Aquarell von Henry Meynell Rheam 1899; Quelle Wikipedia)

Wir erfahren aus der Märchenerzählung, welche Mittel angewandt wurden, um Dornröschen nach ihrer Verletzung mit der Spindel ins Leben zurückzuholen: Es ist als stärkste und zuletzt eingesetzte Waffe gegen den Tod das „Eau de la reine de Hongrie“. „Ungarisches Wasser“ ist ein auf Alkoholbasis weitgehend aus Rosmarin hergestelltes Parfum, das im Jahr 1370 für eine ungarische Königin kreiert wurde. Man schrieb dem Destillat revitalisierende Kräfte und allerlei Heilwirkungen zu. Das älteste erhaltene Rezept setzt ganz auf Rosmarin und Thymian. Da der Begriff „Ungarisches Wasser“ hierzulande ungebräuchlich ist, übersetzt die deutsche Fassung schlicht Rosmarin-Wasser.

 

Scarborough fair

Die beiden Lippenblütler, Rosmarin und Thymian, begegnen noch häufiger in Texten von Liebesgedichten. Und sie begegnen auch gerne im Doppelpack. „Are you going to Scarborough Fair?/ Parsley, sage, rosemary and thyme” ist der Beginn eines englischen Volksliedes, in dem eine frühere Liebste besungen und eine lange Reihe unlösbarer Aufgaben für eine mögliche Liebste erdacht werden. Im Titel ruft das Gedicht übrigens einen Markt in der englischen Hafenstadt Scarborough ins Gedächtnis. Verbunden mit königlichen Privilegien, wurde die Handelsmesse in Scarborough Mitte des 13. Jahrhunderts eingeführt. Sie sollte sich jährlich ungewöhnlich lange, nämlich über einen Zeitraum von 45 Tagen erstrecken, und zwar „from the Feast of the Assumption of the Blessed Virgin Mary until the Feast of St Michael next following.“

 Immer zu Mariä Himmelfahrt also, am 15. August – parsley, sage, rosemary and thyme –, wurde der Markt eröffnet und dauerte über den „Frauendreißiger“ hinaus bis Michaeli am 29. September. Es gibt unzählige Einspielungen und Bearbeitungen des Volksliedes Scarborough fair. Ich habe mir etliches angehört und muß sagen, daß ich Simon and Garfunkel unübertroffen finde – auch wegen des weiteren Liedes, das sie mit dem Volkslied verweben. Wir verlinken daher hier auf ihre Version – auch wenn alle sie schon kennen. Enjoy 🙂 !

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Fortsetzung folgt

PS: Die Passage aus La Belle au bois dormant ist zitiert aus: Charles Perrault, La Belle au bois dormant, in: Perrault Doré. Contes illustrés par [Gustave] Doré, Bibliothèque nationale de France 2014, S. 56-75, S. 61. Die Übersetzung ist dem Buch von Beat Mazenauer und Severin Perrig, Wie Dornröschen seine Unschuld gewann. Archäologie der Märchen, München 1998, S. 42-51, S. 44 entnommen.

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