Cultural appropriation und investigatives Potential
Etliche Pfarreien in Deutschland haben derzeit eine kleine Klagemauer. Evangelisch wie katholisch. Ost wie West. Manche direkt vor dem Altar. Manche in ihrem Pfarrgarten. Auch in Herz Jesu Weimar wich nach Mariä Lichtmeß die große Weihnachtskrippe nicht den üblichen vier Bankreihen (die seit unserem Beitrag „Seinlassen“ vom 8. April 2020 übrigens im südlichen Querarm vor der Marienkonsole nicht mehr schräg auf den Volksaltar im Chorraum ausgerichtet sind, sondern wieder gerade stehen [Anm. d. Red.: Was allerdings immer noch ein nur sehr schwacher Schritt zur notwendigen Restitution der Seitenaltäre ist. Aber immerhin]). Sondern es wurde rechtwinklig eine kleine Klagemauer aufgebaut und durch die restlichen Bänke von Norden und Osten zum Karree ergänzt.
Tatsächlich wie bei der Klagemauer in Jerusalem sollen Zettelchen mit Gebetsanliegen und traurigen Gedanken zwischen die Steine gesteckt werden.
Man hat keine Mühen gescheut: Ein reflektiert und liebevoll gestaltetes Gebetsblatt liegt hierzu eigens aus.
An der Westseite des Querarms (also Richtung Chorraum) aber ist ein weiteres Element aufgebaut, das der Trauer aufhelfen soll. Sorgfältig beschriftet, erinnert eine Schiefertafel an die insgesamt seit Beginn der ersten Krankheitswelle in Weimar Verstorbenen, deren Ableben mit dem inzwischen vielfach mutierten Coronavirus in Verbindung gebracht wird. Der erste Mensch starb in unserer Stadt am 12. November letzten Jahres.
(Die Todesursache war damals von der Stadt presseöffentlich dezidiert als nicht eindeutig auf das Coronavirus festzulegen bestimmt worden. Das ist aber in diesen Fällen bekanntlich gleichgültig.) Insgesamt sind bis heute in Weimar 98 Menschen in den letzten 15 Monaten an oder mit dem Virus ihrer Krankheit erlegen. 90 davon sind auf der Schiefertafel in Herz Jesu Weimar verzeichnet.
Die Klagemauer haben meine in political correctness bestens geschulten Kinder sofort als einen Fall von ‚cultural appropriation‚ demaskiert: als Dekontextualisierung und kulturelle Aneignung eines isolierten Elementes einer Minderheitenkultur. Der gedachte Daumen ging angesichts der Installation in der Kirche daher nach unten. Ich bin einige Wochen lang diesem Urteil gefolgt, und zwar genau so lange, bis ich mir die Schiefertafel einmal genauer angesehen habe. Dies geschah anläßlich des bundesweiten Gedenktages für die Coronatoten, den der Bundespräsident am Sonntag 18. April 2021 zelebrierte und an dem sich auch die Kirchgemeinden mit entsprechenden Anmerkungen in den Gottesdiensten beteiligten.
Denn mehr als Anmerkungen konnten es beispielsweise in Herz Jesu Weimar nicht sein. Nachfragen bei einer rührigen alten Dame (Jg. 1929) aus der Gemeinde, bei der Leiterin des Seniorenkreises sowie bei einer betagten Küsterin förderten nicht eine einzige Erinnerung an ein an oder mit Corona verstorbenes Gemeindemitglied zutage. Einzig unser Pfarrsekretär hatte den Namen eines hochbetagten Herrn aus einer unserer Filialgemeinden parat. Eine Nennung der Opfer, wie sie bei Gedenken ja eigentlich gang und gäbe ist, fiel also an jenem Sonntag nicht nur aus Gründen des Datenschutzes unter den Tisch des Herrn.
Die Woche drauf besah ich mir die Schiefertafel noch einmal genauer. Sie verzeichnete also alle Weimarer Toten, nicht etwa speziell die der Pfarrei. Mir fiel auf, daß die Liste seit dem 18. Februar nicht weiter vervollständigt worden war und tippte auf den häufig genug verebbenden Elan in ehrenamtlicher Tätigkeit.
Dann kam mir die Idee, einmal durchzuzählen, wie viele Daten denn die Tafel schon nannte. Es waren 90. 90 von damals 96 Toten. 90 bis Mitte Februar. Und da fiel mir plötzlich das ungeahnte aufklärerische, ja aufrührerische Potential dieser Tafel auf, das ich bis dahin unterschätzt hatte:
In den elf Wochen von Anfang Dezember bis Mitte Februar sind in Weimar 90 Menschen mit oder an Covid19 verstorben.
In den mittlerweile elf Wochen seither acht.
Die Erkenntnis fiel in die Zeit, als in den Weimarer Schulen gerade wieder die Angst vor Schließungen umging – eine Angst, die sich als nur allzu begründet erweisen sollte. Tage später saßen die Kinder und Jugendlichen wieder zuhause, alleine über irgendwelchen Arbeitsblättern. Die Erkenntnis fiel auch in die Zeit, in der die Präsenz-Messen noch weiter reduziert, noch mehr ins Online-Angebot verlegt und durch Eucharistische Anbetung mit Kommunionausteilung ersetzt wurden. Zwar zeigt genau die Tafel in unserer Klagemauer-Installation, die unter den zu betrauernden Weimarer Toten nicht ein einziges Gemeindemitglied auflistet, daß Messen offenbar nicht zu den Hotspots des Infektionsgeschehens zählen. Aber dennoch: Die Zahlen stiegen doch so!!!
Was für Zahlen? Die Zahlen positiv Gestesteter, asymptomatisch Infizierter – gerade auch unter den Schülerinnen und Schülern. Denn – auch wenn es in der konkreten Umsetzung wie alles im Pandemiemanagement haperte – die Kinder mußten und müssen sich Selbsttests unterziehen, möglichst zweimal die Woche. Viel gefunden wurde und wird nicht – davon kann man sich täglich auf der entsprechenden Internetseite der Stadt Weimar überzeugen. Und bei so drastisch sinkenden Todeszahlen bekommt angesichts der Schiefertafel in unserer Kirche das Schlagwort von der „Laborwelle“ ein ganz neues Gewicht.
Danke! Ausdrücklich danke an die Initiatoren des Projekts „Steine zum Weinen“ – und besonders für die Idee der Zusatzinstallation dieser sorgfältig beschrifteten Tafel. Schreiben Sie ruhig auch die fehlenden acht Daten noch auf. Die Wochenabstände, die sie markieren werden, dürften das investigative Potential der nur auf den ersten Blick so unscheinbaren Installation noch deutlicher in den Vordergrund treten lassen.
Cornelie Becker-Lamers
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