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Wie neu geboren

Ökumenisches Vivaldi-Konzert am Schloß Belvedere

Wie in einer zweiten Biedermeierzeit sitzt das deutsche Bürgertum – ich und meine Familie ausdrücklich eingeschlossen! – derzeit zuhause und hofft. Hofft, daß die Sprache in Satire, Berichterstattung und Argumentation endlich ihre floskelsprengende Wirkung tun und die Politiker zur ersatzlosen Beendigung aller „Coronaschutzmaßnahmen“ bewegen möge. Hofft, daß die Warnungen der Mediziner, die Plädoyers der Abgeordneten, die Hilferufe aus Einzelhandel, Kultur, Hotel- Gaststättengewerbe und natürlich die Verzweiflung aller Familien mit Kindern unter 25 endlich die Herzen der Entscheider erweichen und den ‚Coronanebel‘, der unsere Köpfe einhüllt und unser Denken verlangsamt hat, wegblasen möge. Die ungerechtfertigte mediale Identifikation auch besonnener Kritiker mit ‘Querdenkern’ und dieser mit dem ‚rechten Mob‘ hat ganze Arbeit geleistet: Statt zu demonstrieren, hofft das brave deutsche Volk, die Nachtmütze des deutschen Michel tief in die Stirn gezogen.

Unter dem Hashtag #Hoffnung fand denn auch am gestrigen Nachmittag ein ökumenischer Gottesdienst unter Beteiligung eines katholischen (Pfr. Gothe) und eines evangelischen Geistlichen (Pfr. Rylke) statt. Organisiert hatte die Veranstaltung Martin Kranz vom Achava-Festival gemeinsam mit Musikern der Staatskapelle Weimar. Denn der Gottesdienst war eigentlich ein Vivaldi-Konzert. Sinn der Open-Air-Veranstaltung hinter dem Schloß Belvedere war neben der seelischen Notversorgung der darbenden Bevölkerung, freischaffenden Musikern eine kleine bezahlte Auftrittsmöglichkeit zu verschaffen. Die während der Auftrittsverbote durchfinanzierten Streicher des DNT verzichteten zu diesem Zweck gestern auf ihre Bezahlung.

Strahlender Sonnenschein und milde Temperaturen erfreuten das Publikum und belohnten den Mut der Veranstalter und Ausführenden des Open-Air- Konzerts mit geistlichem Segen am 30. Mai 2021 in Belvedere (eigenes Bild)

Nach einer kurzen Ansprache, in der Pfarrer Gothe die derzeit zu erlebende Erweiterung des Gottesdienstbegriffes verteidigte, aber auch den Gedanken der Trinität an Beispielen begreiflich machte, las der Priester aus Joh 3. Zu Beginn dieses Kapitels erläutert Jesus dem Pharisäer Nikodemus die Notwendigkeit einer Neugeburt des Menschen, der ins Himmelreich eingehen möchte – einer Neugeburt nicht aus seiner Mutter, sondern aus Wasser und Geist. Nach einiger Musik schloß Pfarrer Rylke eine Predigt an zur Neugeburt nach den Zumutungen der Coronamaßnahmen und den Verwerfungen, die ihre unterschiedliche Bewertung in der Gesellschaft bis hinein in Familien und Freundeskreise bewirkt hat.

Der katholische Ortsgeistliche Timo Gothe bei seiner Begrüßung (eigenes Bild)

Die Musik trug natürlich wesentlich zu den Voraussetzungen einer solchen Neugeburt unserer Seelen bei. Sie war klug gewählt. Denn sie fußte vollständig auf den Kompositionen Antonio Vivaldis: Auf Teilen seines zu Trinitatis ungewöhnlichen „Stabat mater“ und auf den „Vier Jahreszeiten“.

Vierzehn Monate Staatstrauer

Warum Vivaldi? Weil die „Vier Jahreszeiten“ zu den meistgespielten Konzerten der Musikgeschichte gehören? Vielleicht. Aber ich vermute noch ein anderes Motiv bei den Veranstaltern. Denn während des Lockdown im vergangenen Jahr kursierte in Musikerkreisen ein gerade erschienener Vivaldi-Roman (Peter Schneider, Vivaldi und seine Töchter, Köln 2019), perfekt dazu angetan, die Moral einer kaltgestellten und zum Teil im Wortsinne ausgehungerten Künstlerschaft zu heben. Denn Vivaldi wird darin als „einer der ersten freien Künstler Europas“ apostrophiert.

Nur in der ersten Hälfte seines Lebens hat er in einem ständigen festen Dienstverhältnis bei der ‘Pietà’ gestanden. Den großen Rest seines Einkommens hat er auf dem unsicheren Opernmarkt und beim musikbesessenen Adel eingesammelt – bei dessen Empfängen, Hochzeiten, Geburtstagsfeiern, Partys und durch den privaten Verkauf seiner Partituren. Sollte auch nur eine dieser Quellen plötzlich versiegen, stünde es schlecht um Vivaldis Haushalt. Und ganz schlecht, wenn alle Quellen auf einmal vertrockneten.
(S. 233)

Ja. Antonio Vivaldi (1678 Venedig -1741 Wien) hat, von den Eltern zum Priesterstand bestimmt, als solcher nicht nur Eltern und Geschwister miternährt und mit dem Waisenhaus Ospedale della Pietà in Venedig das erste Straßenkinder-Orchester der Welt unterhalten. Er hat auch an die 100 Opern komponiert und auf eigenes Risiko zur Aufführung gebracht.

Der Niedergang des berühmten „prete rosso“ begann mit der Zensur eines Werkes. Metastasios „Catone in Utica“ – ein Werk über „Freiheit und Unterwerfung, Moral und Anpassung“ und vor Vivaldi bereits von Meistern wie Hasse und Händel vertont – wird als Libretto verboten, denn, so die Stadtoberen laut Peter Schneider, hier „würden‚ Dinge gesagt, die sich mit der seit Jahren verfolgten politischen Linie in Venedig nicht vertragen.‘“ (S. 222) Der Arm diverser Kirchenfürsten reicht weit ins italienische Umland hinein. Im Mai 1740 verläßt Vivaldi Venedig vermutlich auf der Flucht vor seinen Gläubigern in Richtung Wien (S. 252f.)

Doch die Verlagerung des Wohnortes steht unter keinem guten Stern. Vivaldis Gönner Kaiser Karl VI. stirbt im Oktober desselben Jahres. Vivaldi weiß, „was die unmittelbare Folge für alle Musikanten im Kaiserreich sein würde: die Schließung aller Opern und die Anordnung einer langen Trauerzeit – vierzehn Monate in diesem Fall.“ (S. 258) Der große Opernkomponist, Unternehmer, Violinvirtuose und Vorlagenlieferant etlicher Bachscher Transkriptionen wird am 28. Juli 1741 in Wien in einem Armengrab beigesetzt.

„Vierzehn Monate!“ lachte im letzten Jahr ein befreundeter Chorleiter am Telefon noch auf. Heute, nachdem die Parallelität von zeitlichem Ausmaß der Schließungen und reeller Verarmung der Künstlerschaft Vivaldis Schicksal mit dem heutiger Musikschaffender zur Deckung bringt, lacht niemand mehr. Auch nicht sarkastisch.

Über 200 Jahre blieb Vivaldis auch in den deutschen Fürstentümern zu Lebzeiten vielgespieltes Werk vergessen. Eine wertschätzende Wiederentdeckung fiel in Deutschland dem Kulturkampf im letzten Drittel des 19. Jh.s zum Opfer, als die Orgelbearbeitungen des frisch gebackenen ‘Mythos BACH’ gewissermaßen aus Staatsräson prinzipiell über die Originalwerke des italienischen Katholiken gestellt wurden (S. 262f). Die wertschätzende Wiederentdeckung vollzog sich darum erst 300 Jahre nach Vivaldis Tod durch das Istituto Italiano Antonio Vivaldi, das der Wiederaufführung einiger in der sächsischen Landesbibliothek Dresden aufbewahrten Partituren durch die amerikanische Geigerin Olga Rudge folgte (S. 273f).

Eingehüllt in Fliederduft

Nun also „Le quattro Stagioni“ zu allseitiger Tröstung im Park von Belvedere. Der Duft der voll erblühten Fliederbüsche im Rücken des Publikums erfüllte die Luft auf dem abstandsbestuhlten Platz. In wechselnder Besetzung, mit Solisten aus je anderen freien Ensembles oder auch der Staatskapelle spielten „Frühling“ (Solo: Bernhard Forck), „Sommer“ (Edi Kotlyar), „Herbst“ (Gernot Süßmuth) und „Winter“ (Daniel Sepec) und ließen es sich nicht nehmen, uns in einer jeweils besonderen Ausgestaltung der langsamen Sätze das Erlebnis der Livemusik in vollen Zügen genießen zu lassen. So zauberte Gernot Süßmuth, die linke Hand fast am Steg seiner Geige, in atemberaubendstem Flageolett Vogelstimmen und Naturgeräusche hervor. Christine Schornsheim (Cembalo) riß es vor der letzten Reprise des Kopfthemas im Schlußsatz des „Herbstes“ zu einem genrefremden  Glissando quer über die Tasten hin.

Pure Musizierlust und die Freude am musikalischen Spaß!

Das gute Zusammenspiel der sonst nicht gemeinsam musizierenden Streicher verbesserte sich weiter von Satz zu Satz. Die Akustik im Freien war natürlich knochentrocken, aber eben darum für die sechszehntelgesättigten Melodien der „Vier Jahreszeiten“ besonders gut. Zu Beginn des „Frühlings“ hörte man förmlich die einzelnen Vögel zwitschern.

Schließen wir auch diesen Beitrag mit einer Einspielung des „Herbstes“ durch Frederieke Saeijs und das Niederländische Symphonie Orchester Enschede. Enjoy! 🙂

 

Cornelie Becker-Lamers

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