Die unerhörte Kunde
Ein Sketch für fünf Personen
Wir schreiben das Jahr 1294. Gut 300 Jahre nach der erfolgreichen Erhebung der Liutizen und Abodriten gegen die fränkische Herrschaft haben Christianisierung und germanische Besiedlung der Gebiete zwischen Elbe und Oder wieder Fahrt aufgenommen. Überall im Land erfreut man sich einer regen und tatkräftigen Geistlichkeit, die in spiritueller Erfülltheit und mit viel körperlichem Fleiß die Urbarmachung des Landes wie der menschlichen Seelen vorantreibt.
Überall? Nein. Ein winziges Dörfchen, dessen Gründungslegendegeschichte von einem wunderbaren Fischfang aus der Stobrava erzählt, dümpelt in geistlicher Entwicklung und seelsorglicher Hinsicht ein wenig vor sich hin: Tschudowitz, heute bekannt unter seinem eingedeutschten Namen Wundersdorf im Oderbruch. Pfaffe Conradus von Mihildorpa, zur eigenen Reifung und Bewährung sowie zum Wohle der Christenheit auf Betreiben des Landgrafen Abrecht II. aus den lieblichen Thüringer Besitzungen des Bistums Mainz zum Dienst in die rauhe sächsische Ostmark entsendet, hat in Organisation und Aufbau einer christlichen Gemeinde keine glückliche Hand.
Wir treffen ihn, als er sich gerade in seiner Hütte seinen Haferschleim und einen Humpen Dünnbier servieren läßt. An seiner Seite Ortrud, die ihm einst versprochen hatte, sein Leben in die Hand zu nehmen. An der Tür der bucklige Labun, der Hochwürden Haus und Stall in Ordnung hält.
Es ist bitterkalt, die Christnacht ist nahe, als ein Bote aus der Bischofsstadt Brandenburg vor der priesterlichen Behausung von seinem dampfenden Pferd springt. Es ist Wigger der Gradlinige, als Brandenburger Mönch damals natürlich ein Prämonstratenser, den Conradus von einem kurzen Aufenthalt im Kloster her kennt.
Labun (kommt von der Tür herangehumpelt): Herr!
Conradus: Was ist?
Labun: Ein Bote, Herr! Ihr kennt ihn.
Conradus: Frohe oder böse Kunde?
Labun: Frohe, Herr!
Ortrud (unwirsch): Nun sag schon!
Labun (mit einer Verbeugung): Es ist Bruder Wigger der Gradlinige, ein Prämonstratenser aus Brandenburg.
Conradus (springt auf): Wie ich mich freue! Bruder Wigger! Herein mit ihm!
(Labun humpelt zur Tür und führt den Boten herein.)
Conradus (geht mit ausgebreiteten Armen auf Wigger zu): Wigger, mein Freund! Wie ist die Lage! (Die beiden umarmen sich.)
Wigger (verstört und abgehetzt): Bruder Conradus! Wie ich mich freue! Ich habe jedoch nicht lange Zeit. Ich bringe traurige Kunde!
Conradus (jovial): Das kann warten! (Zur Haushälterin, in abfälligem Befehlston): Hey! Bärin! Noch ein Bier für meinen Freund!
Wigger: (will sich kaum setzen): Ich muß noch weiter, Bruder Conrad, hab vielen Dank aber ich kann nicht rasten!
Conradus: Hoooo! Für ein Bier ist immer Zeit. (Er setzt sich und schiebt dem Gast einen Holzhocker hin.) Was bringst du für Neuigkeiten?
Wigger: Traurige, Conrad, traurige! Unser allerheiligster Vater und guter Hirte, Seine Heiligkeit Coelestin V., Papst der Christenheit und Bischof von Rom mit Sitz in Neapel ist vor einigen Tagen, am Fest der Heiligen Lucia, von seinem Amt ZURÜCKGETRETEN! (Er birgt, übermannt von seiner Bewegung, sein Gesicht in den Händen. Dumpf) Schon wieder ist die Christenheit ohne Führung und ohne Oberhaupt.
Conradus (überrascht): Ohne Führung? Klingt gut! (Er schaut zu Ortrud hinüber, deren Gesicht in maliziösem Lächeln verzogen ist.)
Wigger: (heftig auffahrend): Conradus! Du Unheiliger! (sofort wieder leise) Oh! Verzeih mir, Bruder! Sicherlich nimmt nur der Schmerz dir die Herrschaft über deine Gedanken!
Conradus (beleidigt): Das will ich meinen. (Er hebt den Becher) Aber jetzt laß uns erstmal anstoßen, du bist ja völlig geschafft und brauchst Ruhe! (Er winkt der Haushälterin ungeduldig nach dem Bier, das sie Wigger nun bringt.)
Wigger: Ich kann jetzt nichts zu mir nehmen, Conrad, hab vielen Dank für deine Gastfreundschaft! Ich muß weiter – so vielen ist die Kunde noch zu überbringen. Ich will dir nur das bischöfliche Schreiben mit den Anordnungen für die kommenden Wochen verlesen und dann gleich nach Petershagen weiterreiten.
Conradus (runzelt die Stirn): Anordnungen?
Wigger (zieht eine Schriftrolle aus seiner Kutte, entrollt sie und beginnt zu lesen): Wir, Bischof Dietrich von Brandenburg, gottesfürchtigster Diener und …
Conradus (ungeduldig): Jajaja – nun sag schon, was will er?
Wigger (irritiert): Du sollst eine Messe lesen, eigens wegen des Rücktritts seiner Heiligkeit Papst …
Conradus: Jajaja, ist ja schon gut. Wie – Messe? Das machen wir doch schon jede Woche ein paarmal!
Wigger (zieht die Augenbrauen hoch): Du solltest täglich eine Messe zelebrieren, Bruder, das weißt du. Und diese hier für den Papst noch einmal gesondert.
Conradus (auffahrend): Zusätzlich? Und das im Advent? Weißt du, wo mir der Kopf steht? Wieviel zu tun ist in einer Gemeinde, die ein so großes Gebiet umfaßt? Ihr in euren Klöstern habt ja keine Ahnung! Wenn ihr wüßtet, was hier täglich los ist!
Wigger (kühl): Also – seit ich hier bin, finde ich es ziemlich ruhig. Keine Kranken vor der Tür, keine Bettler und keine weinenden jungen Mütter. Und du hast Hilfe und Bedienung (er sieht sich um und nickt Labun und der „Bärin“ zu. Auf Ortrud bleiben seine Augen voll Mißtrauen haften.) Ich denke, du kannst das leisten!
Conradus: Du hast recht, die Leute habe ich mir in mühsamer Kleinarbeit vom Hals geschafft. Und du hast abermals Recht: Ortrud hilft mir kräftig dabei (er grinst die ihn holdselig anblickende Ortrud an. Die beiden Hausangestellten scheint er überhaupt nicht zu bemerken.) Aber dennoch: Eine Messe zusätzlich? Wann soll das gehen? Die Leute arbeiten über Tag!
Wigger (mit Nachdruck): Eine Messe ist auch gültig, wenn du sie alleine zelebrierst, wie oft soll ich dir das noch sagen?! Außerdem werden die Menschen schon kommen, wenn sie den Anlaß erfahren, die besondere Meinung – und wenn du früh genug liest. Um 5 oder 6 Uhr.
Conradus (mit erstarrtem Gesicht): Um um um 5 Uhr? Früh? Äh … äh … natürlich, Bruder Wigger, ich will sicherlich für alles sorgen. Nun spute dich, daß du nach Petershagen kommst, es wird rasch dunkel jetzt.
Wigger (erhebt sich und legt ein kleines Pergament auf den Tisch): Hier sind die Gebete und der liturgische Ablauf für diese besondere Messe. (zugewandt und eindringlich zu Conradus) Du mußt es schaffen, Conrad! Ermanne dich! Wir haben ein wichtiges Amt! Es geht sogar noch um mehr als nur um die Menschen um dich herum! (Er verabschiedet sich durch ein Kopfnicken von allen im Raum und wendet sich zum Gehen. An der Tür): Gott zum Gruß, Conradus. Und laß die Kinder, wenn sie mit diesen ausgestopften Schweinsblasen herumkicken, nicht immer „Thor, Thor, Thor“ rufen, das ist unchristlich! (Er geht und hinterläßt betretenes Schweigen).
Ortrud (greift sich das Pergament): Dann wollen wir mal sehen! (Sie liest und kichert.)
Conradus (brütet schlecht gelaunt vor sich hin): NOCH eine Messe! Ich denke überhaupt nicht daran! Wegen einem Papst! Pff! In Rom oder Neapel oder wo dieser jetzt gerade wohnte. (In Aufruhr) Der tut doch auch nichts für mich!
Ortrud (legt ihm besänftigend die Hand auf den Arm): Du hast vollkommen Recht, mein Lieber, das machen wir natürlich NICHT mit! – Was hat dir der Bischof eigentlich zu sagen? Du bist hier der Pfarrer! Und Dietrich ist nicht einmal bestätigt. (Listig) Er wird nicht wagen, dich zu ermahnen (sie lächelt höhnisch.)
Conradus (schiebt sein Essen weg): Der Appetit ist mir jedenfalls gehörig vergangen! (Er steht auf) Laß uns ein Stück gehen! Das wird uns gut tun! (Laut) Bärin! Meinen Pelz!
(Die Haushälterin bringt dem Pfarrer seinen Mantel von einem Haken an der Wand und hilft ihm hinein. Ortrud nimmt ein dickes Wolltuch um und gemeinsam mit Conradus verläßt sie das Haus. Labun und die Bärin blicken sich an.)
Die Bärin (ernst): Das ist nicht gut!
Labun (nickt ernst): Ja, Bärin, das ist es nicht! Gott vergebe uns!
Die Bärin (packt einen Korb mit Lebensmitteln und Kräutern): Achte jetzt auf das Feuer, Labun. Ich will die alte Notburga pflegen gehen. Sie wird sterben, und ob der Pfarrer sie besuchen wird? (Sie geht hinaus. Labun bekreuzigt sich und bleibt sinnend am Feuer zurück.)
ENDE
Cornelie Becker-Lamers, Weimar
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