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„Wüst und leer“

Kalkuliertes Chaos beim Weimarer Orgelsommer

Wir hatten ja darauf hingewiesen: Im Konzert mit der Weimarer Cellistin Christina Meißner gastierte Martin Sturm, Nachfolger von Michael Kapsner auf der hiesigen Professur für Improvisation und Kirchenmusik, am vergangenen Sonntag aus Anlaß des 90. Geburtstages von Sofia Gubaidulina im Rahmen des Weimarer Orgelsommers in der evangelischen Stadtkirche St. Peter und Paul („Herderkriche“). Dabei kam neben der Uraufführung eines eigenen Werkes des Organisten (*1992) auch „Seraph“ von Lisa Streich (*1985), eine sechsminütige Improvisation der beiden Solisten und zuletzt „In Croce“ von Sofia Gubaidulina (*1931) zu Gehör.

Das heißt, das Konzert war auf die ständige Steigerung der Qualität der Stücke hin angelegt. So muß das sein! „Requiem“, das in diesem Jahr entstandene Werk von Martin Sturm, versprach im Programmheft zwar die Entsprechung zum „liturgischen Ablauf der katholischen Totenmesse, vom ‚Introitus‘ über das ‚Dies irae‘ bis hin zum abschließenden ‚In paradisum‘“, ließ uns aber vollständig ratlos zurück.

Die Komposition gehört zu den Stücken moderner Geräuschcollagen, die der melodischen Erfindungsgabe des Tonsetzers einfach überhaupt nichts abverlangen. Die Kunst, so schien mir, lag hier einmal mehr ganz bei der Interpretin, der solistisch agierenden Christina Meißner. Da wurde über die Saiten gewischt, getrommelt und mit dem Bogen geklopft, das ganze Cello angehoben und der Stachel hörbar wieder aufgesetzt, es wurde gekratzt und gerieben, Wirbel verdreht und die Quinte hernach wieder rein gestimmt, die Finger rutschten die klingenden Saiten hinauf und hinab … das volle Programm also, seit Jahrzehnten bekannt und aus-probiert.

Die eigentliche Kunst dürfte hier sein, das Erdachte oder Erfühlte in einer intersubjektiv vermittelbaren Partitur irgendwie lesbar festzuhalten. In Györgi Ligetis „Atmosphères“, einem bereits 60 Jahre alten Orchesterwerk, das u.a. ganz ähnliche Effekte vorsieht, geschieht dies zum Teil einfach sprachlich: Da wird in einer Einleitung zur Partitur schlicht angeordnet, wie die Schuhbürste, mit der die Saiten eines Konzertflügels gestrichen werden, zum Einsatz zu kommen habe und daß der Wechsel zwischen Besen und Bürste bitte lautlos vonstatten zu gehen habe.

Das alles wäre unglaublich lustig, wenn es nicht so unglaublich ernst gemeint wäre. Nicht umsonst jedenfalls bemühte Martin Sturm in seiner Begrüßung und kurzen Einführung vorsorglich John Cage: Alles ist Musik. Jajaja, schon gut, schon gut! Das gebildete Publikum hat gelernt, über solche Werke weder zu lachen noch den Kopf zu schütteln. Sie brauchen keine Angst zu haben!
Inwieweit allerdings ein solch freies Werk, das nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf eine etwa bedeutungstragende Klangrede der tonalen Harmonik ganz und gar verzichtet, das Publikum in den 12 Minuten seiner Dauer auf eine Seelenreise mitzunehmen imstande sein könnte, wie es das Requiem etwa von Wolfgang Amadeus Mozart leistet, das frage ich mich noch immer.

„Ich konnte schon früh zeichnen wie Raphael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.“ Dieses gleichermaßen in dem klassischen Gott-Kind-Mythos wie im Rousseau‘schen Ideal einer zivilisatorisch unverbildeten Kinderseele gründende Zitat von Pablo Picasso ist berühmt. Auch in der Neuen Musik scheint es das Ideal einer tastenden Kunst zu geben, in deren gesuchten Klangcollagen und abrupt unterbrochenen Geräuschteppichen man offenbar das Zutagetreten des Ursprünglichen und Reinen vermutet. Als schwebe Gottes Geist nur über dem Wasser, solange Chaos herrscht und die Erde wüst ist und leer.
Aber Gott mochte auch die Ordnung und sah, daß sie gut war. Und sollten nicht die Harmonien der Musik, von denen man in früheren Jahrhunderten den Himmel im Gesang der Engel erfüllt wußte, zu dieser göttlichen Ordnung gehören? Ich möchte von dieser Überzeugung nicht lassen.

Lisa Streichs „Seraph“ stand dem „Requiem“ von Martin Sturm in nichts nach.
Schön war dann die etwa sechsminütige Improvisation der beiden Konzertierenden. Die Cellistin begab sich aus dem Altarraum auf die Empore und beide Künstler reagierten mit ihren Instrumenten auf das Spiel des oder der jeweils anderen. Zwei Kunstfertigen beim – im emphatischen Sinne des Wortes –
Spielen zuhören zu dürfen, das ist sehr wohltuend. Und es zeigt sich, daß sich in der echten Improvisation, die tatsächlich gänzlich ohne Notation auskommt, ein weitaus organischeres Spiel entwickelt, als die gesetzten Störungen vieler Stücke aus dem Bereich der Neuen Musik es zulassen möchten. Bemerkenswert!

Cornelie Becker-Lamers

 

PS: Als der wesentlich (ganz wesentlich!) weniger Musik-Kundige hatte ich mich entschlossen, das Konzert ebenfalls zu besuchen, habe ich doch als Musik-Liebhaber, dessen Vor-Lieben tendenziell in der Frühromantik enden, immer wieder die Erfahrung gemacht, daß das Live-Erlebnis die Horizonterweiterung deutlich erleichtert.
Und ich habe diesen Entschluß nicht bedauert – im Gegenteil!
In der Tat, die gnädig kurze Stunde, die das Konzert dauerte, brachte mit der Improvisation und dem wirklich schönen Stück von Sofia Gubaidulina auch echten Hörgenuß! 

Und darüber hinaus regte die Veranstaltung eben zum Denken an, wie wir gerade von Cornelie gelesen haben. Ja, “unglaublich lustig” darf es eben tatsächlich nicht sein, denn, genau, es ist immer, ganz “ernst gemeint”. Und ob die Tatsache, daß “[d]as gebildete Publikum gelernt [hat], über solche Werke weder zu lachen noch den Kopf zu schütteln” wirklich kein Anlaß ist “keine Angst zu haben”, das ist doch am Ende nicht so ganz raus, meine ich. 

Oder vielmehr, fürchte ich, und denke an die jüngst im Rahmen von PuLa-Reloaded erneut hervorgeholten Betrachtungen über (in dem Fall bildende) ‘Moderne Kunst’ im Gotteslob von 2013/14 (hier), wo wir ja am konkreten Beispiel gesehen hatten, mit welch kaum verhohlener Arroganz und Intoleranz der Anspruch auf überlegene Geltung, ja letztlich auf einen überlegenen Bewußtseinszustand dafür sorgte, daß uns etwas aufgedrängt wurde, was grundsätzlich, kategorial “quer” liegt, zu dem, wozu man ein ‘Gebetbuch’ braucht!
Und ich denke an Stimmen aus Frankreich (das wir Europäer uns ja extra für die Hervorbringung unbequemer Denker halten, nicht wahr? 😉 ), die die dunkle Seite der von Cornelie hier so mit leichter Hand skizzierten “Zurichtung” auf “bloß nicht lachen”, bloß nicht “Der Kaiser ist nackt” rufen, in den Blick nehmen und sie mit den Demütigungsritualen stalinistischer Schauprozesse paralellisieren: “Bloß nicht aufmucken!” wäre dann der gemeinsame Nenner, die repressive Absicht.

Um bloß nicht mißverstanden zu werden: Selbstverständlich unterstelle ich den agierenden Künstlerinnen und Künstlern nicht derartige Intentionen! Sie wären in solchen Zusammenhängen im Zweifelsfall eher unbewußt Mittuende. (Im Zweifelsfall, denn das 20. Jahrhundert kennt auch genug ‘Moderne Künstler’, die den totalitären Versuchungen erlegen sind!)

Aber wir, das ‘Publikum’, wir sollten uns, glaube ich, immer mal wieder fragen, welche Doppelbödigkeit unsere tiefsitzende Zurichtung zur Höflichkeit vielleicht verdeckt.
Das ist eine Frage nach der Freiheit. 

Gereon Lamers 

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