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„no-one notices the customs slip away” (1/2)

Was hat Al Stewart mit Eugen Drewermann zu tun? 

Oktober. Rosenkranzmonat. Auch in der christlichen Glaubenspraxis ist das meditative Gebet tief verwurzelt. Wissen wir. Aber es gab noch mehr als das. Und das wissen wir vielfach nicht mehr.

Die Beschäftigung mit älteren Texten zeigt nämlich, daß im Deutschland des 17. Jahrhunderts auch eine Verbindung geistlicher Inhalte mit körperbezogenen Praktiken ausgearbeitet worden war. Die Übung dieser Praktiken aber ist uns leider durch die Finger geronnen wie so vieles, das irgendeiner Generation unserer Vorfahren plötzlich der Weitergabe nicht mehr wert schien. Es könnte vielen Menschen etliche Therapiestunden ersetzen, wenn sie wieder breiter bekannt gemacht würde. Der folgende Text wird den Körper einbeziehende meditative Praktiken, wie Friedrich Spee sie in seinem „Güldenen Tugendbuch“ entworfen hat, in aller Kürze vorstellen. Vielleicht reicht das ja für den einen oder die andere schon als Anregung, zu erweiterten Gebetsformen unserer Tradition zurückzufinden und sie neu mit Leben zu füllen.

Bei der Beschäftigung mit Brahms‘ romantischer Klage „In stiller Nacht“, deren Text sich als drastische Verkürzung eines frühneuzeitlichen Gründonnerstagsgedichtes entpuppte, stieß ich in dem Buch „Geistliches Wunderhorn“ (im folgenden GW) auf den Hinweis zu Friedrich Spees „Güldenem Tugendbuch“. Dieses 1649 posthum erschienene, vermutlich aber bereits 1627/28 verfaßte Werk des 1591 geborenen Jesuiten widmet sich u.a. ausführlich der Tugend der Hoffnung und verzeichnet an dieser Stelle das Gedicht „Bey stiller Nacht“.

Sie erinnern sich: „Bey stiller Nacht“ (Text hier) imaginiert den zu Tode geängstigten Christus im Garten Gethsemane, der seinen Vater um den Erlaß des schmach- und leidvollen Todes bittet. Als dieser ablehnt und den Sohn zu ermutigen versucht, stellt Jesus sich seine Mutter vor und klagt ihr sein Leid. Kreuz und Marterwerkzeuge imaginiert er zuletzt so eindringlich, daß das lyrische Ich vor Mitleid vergeht und die compassio auch des ganzen Kosmos spürt: „Die Sterne lan/ ihr Glitzen stahn,/ mit mir sie wollen weinen.“

Dieses Gedicht, wie früher üblich zum lauten Vor-sich-hin-Sprechen verfaßt, steht im Zusammenhang eines ganzen „seelsorglichen Übungsprogramms“ für einen Menschen „in grosser betrübnuß und bedrangnuß des hertzens“ (Zitat durch Alex Stock, GW S. 209). Wer nicht mehr aus noch ein weiß, nirgends Rat und Trost finden kann oder zu erbitten wagt, wen die Sorge förmlich umtreibt und wen es „seines stands gerewet“ (ebd.), der stelle sich, so die Unterweisung des Tugendbuches, Jesus am Kreuz leibhaftig vor Augen. Christus selber wird dann bald zum Betenden zu sprechen beginnen:

„Was wiltu machen? Gehe in dein kämmerlein, setze dich da nider zu meinen füssen, ò mein hertziges, außerwehltes kind: Weine, vnd weine; Laß fliessen dein hertz, vnd augen: laß winden und wehen deine seufftzer, laß gehen in lufften deine begierden: zu mir, zu mir solt schreien vnd klagen, ich werd erhören dein gebett, dein gebett werd ich erhören.“ (Zitat ebd.)

Aus dem 14. Jahrhundert und möglicherweise aus der Feder Papst Johannes XXII. stammt ein Gebet, das ebenfalls um die eigene Stärkung angesichts der Leiden Christi bittet: „passio Christi conforta me“ (Leiden Christi, stärke mich), heißt es zu Beginn der zweiten Strophe. Ich liebe diesen Text und bete die Worte in jeder Messe mehrfach. Die lateinische, besser zu vertonende Originalfassung habe ich vor Jahren für die Cäcilini in eine ganz schlichte und einfache Melodie verpackt. Vor gut drei Jahren haben wir sie während der Heiligen Kommunion in einem Hochamt gesungen. Enjoy: 🙂

Spees „Güldenes Tugendbuch“ geht noch weiter als der spätmittelalterliche Gebetstext. Es bleibt nicht bei den Worten stehen. „Die Übung der Einbildungskraft geht in eine Übung des Körpers über“, stellt Axel Stock fest und beschreibt die „unmittelbar atemtherapeutische“ Wirkung des immer und immer wieder laut geseufzten Gebets. Denn Spee präzisiert seine performatorischen Anweisungen zum heilsamen Beten: „Die seufftzer aber sollen nit anders gehen, als: Ach Jesu! Ach Jesu, gar langsam vnd tieff, so blaset sich vill betrangnuß allgemach vom hertzen, wie offt durch die erfahrnuß beweret worden ist.“ (Zitat in GW S. 210) Zuletzt wird zur Indienstnahme der Musik geraten, die durch „trawrige Liedlein“ das Überfließen des Schmerzes in die tröstenden Tränen besonders gut befördern kann.

Als Pfarrer Preis Ende Juni dieses Jahres im Hochamt in Herz Jesu Weimar an die Lesung des Tagesevangeliums Mk 5, 21-43 – der Geschichte von der Tochter des Jaïrus und der blutflüssigen Frau – Bemerkungen über verschiedene Definitionen von Gesundheit anschloß, stellte er neben die Definition der Weltgesundheitsorganisation (Gesundheit als „Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens“) eine andere: nämlich Gesundheit als Fähigkeit zum Umgang mit Störungen. Das fand ich großartig und mußte damals sofort an Spees „Güldenes Tugendbuch“ denken, das so viele praktische Hinweise zur Bewältigung von Störungen und Trauer bereithält.

Ich wollte auf diese Inhalte bereits im Kontext von Gereons Ausführungen zur Lehre von den letzten Dingen hingewiesen haben. Wie tröstlich ist die Eschatologie in der Trauer angesichts des fremden und in der höchsten Angst angesichts des eigenen Todes. Priester sollten sie in Requien, aber auch in Lebenskrisen, wie sie die Coronamaßnahmen bei so vielen von uns durch die unzähligen und langanhaltenden Verbote existentiellster Lebensvollzüge ausgelöst haben, durchaus wieder häufiger und eindringlicher zur Sprache bringen. Spees „Tugendbuch“ zeigt, wie tief auch in der christlichen Glaubenspraxis nicht nur das meditative Gebet (Rosenkranz, Allerheiligen- oder Lauretanische Litanei …) sondern auch eine Verbindung geistlicher Gehalte mit beispielsweise atemtherapeutischen Körperübungen verankert war.

Lassen Sie uns vernachlässigte oder gar verschüttete Gebetsformen wiederfinden und erhalten. Lassen Sie uns die Traditionen, die einst Europa formten und zusammenhielten, mit neuem Leben füllen und unsererseits weitergeben!

 

Cornelie Becker-Lamers

Fortsetzung folgt …

 

… morgen mit einem Liedtext aus der Populärkultur, der das Thema durch zusätzliche Aspekte noch unterfüttern wird und die Überschrift erklären wird. 😉

 

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