Eine kurze Bemerkung zur langen Geschichte eines derzeit so mißbrauchten Wortes
Die Arbeit am Nachruf auf George Alexander Albrecht, den wir gestern an dieser Stelle publiziert haben, rief mir ein Gedicht Detlev von Liliencrons ins Gedächtnis, das Johannes Brahms sehr schön in Töne gegossen hat: „Auf dem Kirchhofe“. Dieses Gedicht, das einen Gang zum Friedhof bei symbolisch schlechtem Wetter beschreibt, macht zunächst den Vanitas-Gedanken zum Thema. Wie dem lyrischen Ich der Regen ins Gesicht peitscht und – es kann nicht anders sein – der Sturm die Kleidung zaust, so schlägt ihm auch seelisch Verstörendes entgegen. Es begegnet ihm eine Vergänglichkeit, die selbst auf Erden Haltbarstes wie den Stein erfaßt. Verwelkte Kränze und die Verwitterung der Grabmale sind die äußeren Zeichen für den Tod und vor allem für ein Vergessen-worden-sein, das mit der Verwitterung der Namen die Identität der Toten ausgelöscht hat. Das Nicht-mehr des Gewesenen scheint letztlich die einzige Botschaft, die die Eiseskälte des Todes hinterläßt.
Oder?
Auf dem Kirchhofe
Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt,
Ich war an manch vergeßnem Grab gewesen,
Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt,
Die Namen überwachsen, kaum zu lesen.
Der Tag ging sturmbewegt und regenschwer,
Auf allen Gräbern fror das Wort: Gewesen.
Wie sturmestot die Särge schlummerten,
Auf allen Gräbern taute still: Genesen.
Detlev von Liliencron (1844-1909)
Das letzte Wort, der letzte Vers kehrt die Bewertung alles zuvor Gesagten um. Wie die Verwitterung des Steins, so ist auch das Vergessen-worden-sein nur ein irdisches. Nur das Materielle verfällt, nur „die Särge“ schlummern. Nur die menschlichen Kapazitäten der Nachkommen sind zu begrenzt, um aller Toten zu gedenken. „Und doch ist Einer“, wie Rilke es so wunderschön formuliert, Einer, der alle, der alles Fallen, Welken und Vergehen „unendlich sanft in seinen Händen hält“. Wie Max Reger es in seiner zunächst so verstörenden Vertonung des „schweren Traums“ („Ich hab die Nacht geträumet“) musikalisch darstellt, so wird hier sprachlich der Tod als Heilung erkennbar. Das Sterben wird zur Genesung von der Krankheit, die das Leben ist: Das „Auf allen Gräbern taute still: Genesen“ haucht mit dem erlösend-deutenden Wort den warmen, lebenspendenden Atem des Ewigen Lebens ins Gedicht.
Was bedeutet: Genesen?
Das von Friedrich Kluge begründete etymologische Wörterbuch gibt als Ausgangsbedeutung des Wortes „genesen“ das unbeschadete Zurückkommen an. Die indoeuropäischen Verwandtschaften lassen auf eine Grundbedeutung des Wortstammes von heimkommen, ankommen, überstehen schließen. Über die Lautverschiebung des sogenannten grammatischen Wechsels, wodurch in Konjugationen und Substantivierungen auch s und r wechseln können (geläufige Beispiele sind Präteritum und Perfekt von „sein“: „war“ und „gewesen“, aber auch „verlieren“ und „Verlust“) wird als Kausativum von „genesen“ das Verb „nähren“ erkannt mit seiner Grundbedeutung von retten, überstehen machen, am Leben erhalten.
Retten. Heimkommen. Überstehen. Das ist das weite und große Wortfeld um das Wort „genesen“, das derzeit in aller Munde ist und dabei zugleich so zur Unkenntlichkeit zurückgestutzt und mißbraucht wird. Lassen Sie den Mißbrauch nicht am Wort kleben bleiben. Entpolitisieren Sie es für sich wieder, indem Sie sich seiner so unendlich viel größeren Bedeutung erinnern!
Hören wir zum Abschluß noch ein bißchen Musik. Johannes Brahms hat Liliencrons Gedicht vermutlich 1888 vertont und als viertes seiner Fünf Lieder für eine tiefere Stimme und Klavier in sein op. 105 aufgenommen. Wir haben für Sie eine Interpretation von Bernarda Fink herausgesucht. Enjoy!
Cornelie Becker-Lamers
Wer aber hohe Stimme bevorzugt, hier ist eine Interpretation von Benita Valente.
Cornelie Becker-Lamers
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