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Der Ersatzaltar, Ein Sketchlet zum ersten Advent

Ein Sketchlet für fünf Schafe, zwei Lämmchen und so viele Schafstatisten, wie auf die Ladefläche des Pritschenwagens passen

Brandenburg, auf der Bundesautobahn 10. Schon mächtig im Verlauf der nautischen Dämmerung – mit anderen Worten: es ist, obwohl gerade später Nachmittag, bereits stockfinster – umfährt der uns bekannte Pritschenwagen Berlin in östlicher Richtung. Wie immer, ist die Ladefläche im Winter durch eine Plane abgedeckt. Und wie immerhört man es darunter lebhaft diskutieren. Wir wissen, was das bedeutet: Die Schafe waren wieder einmal unterwegs. Wenigstens hört man auf diesem Wege endlich einmal wieder von ihnen. Wo ging es denn diesmal hin? Hm. Wir schnappen Stichworte auf wie Weltkulturerbe, UNESCO, Stifterfiguren und Triegel. Sie werden doch nicht im Naumburger Dom gewesen sein? 

Flocke: Aber was dieser eine Herr da meinte: Man kann ja den Altar zuklappen. Es ist schließlich ein Flügelaltar. Und dann sieht man alle Figuren wieder.

Wolle: Und außerdem: Wenn da mal ein Altar gestanden hat … die Hochaltäre verdecken doch immer was, Fenster und so …

Kohle: Es geht ja auch um Prächtigkeit und Verschwendung.

Grauchen: … ging … Das ist lange her …

Blütenweiß: Jedenfalls guckt die Uta jetzt genau auf den Altar … ist doch auch eine Sichtachse …

Kohle: Wer weiß, was sich im Kölner Dom für Sichtachsen ergäben, wenn man ihn halb leer räumt … (Die Schafe lachen.)

Flocke: Also paßt schon!

Wolle: Um Altäre in die Kirchen zu bringen, muß man ja nicht immer warten, bis sie Museen geworden sind

Fixi (hat die ganze Zeit mit Huf geflüstert): Dürfen wir mal was ganz Dummes fragen?

Flocke (mütterlich): Es gibt keine dummen Fragen, Fixi und Huf! Was möchtet ihr denn wissen?

Huf: Was wollte Triegel eigentlich darstellen?

Flocke (lächelt milde): Na, die Mutter Maria mit dem Jesuskind.

Huf: Und die ganzen Figuren um sie rum?

Wolle: Du meinst, die hinter ihr stehen?

Blütenweiß: Vielleicht stellte das zerstörte Bild die Heilige Sippe dar?

Grauchen: Das wird es sein! Deshalb hat Triegel auch seine Frau hinter seine Tochter gemalt, die die Maria darstellt.

Huf: Das Bildmotiv der Heiligen Sippe hat doch aber paradoxerweise den Bildersturm überstanden  … Da gab es doch mal diesen Vortrag bei unseren Senioren …

Die Schafe blicken sich betroffen an.

Kohle: Da hast du recht. Na dann vielleicht … die Vierzehn Nothelfer?!

Flocke: Genau! Wie auf der berühmten Einhornverkündigung im Erfurter Dom.

Wolle (setzt die Mosaiksteine zusammen, zufrieden): Triegel ist ja gebürtiger Erfurter!

Fixi: Es sind aber nur zehn Erwachsene hinter der Maria.

Huf: Und nur eine hat ein Attribut … das Lamm … das wäre eigentlich Agnes.

Fixi: Aber da sie die einzige ist, wissen wir nicht, ob sie überhaupt die Agnes darstellen soll. Ist das Bildmotiv überhaupt eine ‚Sacra Conversazione‘? 

Grauchen: Einer hat einen Schlüssel …

Fixi: Das ist aber doch der Venezianische Obdachlose mit der Basecap … stellt man so heutzutage Petrus dar?

Die Schafe grübeln.

Huf (in die Stille hinein, in der man nur den Motor des Pritschenwagens tuckern hört): Und die drei Frauen hinten links sind Stifterinnen … die malt man eigentlich in den Vordergrund unten hin, ein bißchen kleiner als die Heiligen …

Fixi: … wie auf den Seitenflügeln …

Huf: Und die Musikerinnen sind keine Engel …

Fixi: Und das eigentlich sehr korrekte Spruchband gehört zur Heimsuchung.

Flocke: Spruchband? Hilf mir noch mal!

Huf: Da steht Magnificat anima mea

Kohle (nach einer Schrecksekunde): Najaaaa … so genau …

Fixi (altklug): Ikonographie ist immer genau! Sonst funktioniert sie nämlich nicht.

Huf: Und Triegel stellt hier so vieles nicht dar, daß wir uns fragen, was er eigentlich darstellt … außer mal wieder seiner Frau …

Die Schafe schweigen betreten.

Blütenweiß (etwas hilflos): Aber der Goldgrund … Und der Faltenwurf!

Kohle (beifällig!): Der Faltenwurf!!!

Wolle (erleichtert): Der Faaaaltenwurf!!!

Blütenweiß: Und dieser Brokathintergrund … Das ist doch auch sehr eingeführt …

Fixi: Hm. Ist normalerweise kein Tuch …

Flocke (rasch): Die Brokatfläche soll übrigens ein Schutzmantel sein.

Grauchen (erleichtert): Na bitte! Da haben wir es doch! Eine Schutzmantelmadonna.

Fixi: Bei der die Menschen nicht unter den Mantel fliehen, sondern ihn selber aufspannen …?

Huf (platzt heraus): Nach dem Motto: „Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!“

Fixi: Menschen bauen den göttlichen Schutz auf?

Huf: Also ich weiß ja nicht …

Fixi: Da sind wir bald bei Sartre … Gott als Gedankenkonstrukt des Menschen …

Kohle: Neineineineinein!!! Das würde Triegel völlig verfehlen!

Grauchen: Ihr müßt bedenken, daß er durch seine Arbeit an den christlichen Motiven ja wirklich zum Glauben gefunden hat! Ist seit acht Jahren katholisch.

Blütenweiß: Und da haben wir eben auch endlich mal einen Maler, der so perfekt malen kann und einen zerstörten Mittelteil eines Cranach-Altars ersetzen!

Kohle (brummt): Maler, die berückende Physiognomien aufs Papier zaubern, gibt’s allerdings schon noch paar mehr. Die Frage ist, wie Triegel es geschafft hat, von den kirchlichen Kunstkommissionen nicht gerade wegen seiner Gegenständlichkeit aussortiert zu werden …

Fixi: Mir ist es eigentlich auch zu perfekt.

Wolle (platzt heraus): Na, was denn nun noch?!

Huf: Doch, doch. Ich finde, Fixi hat recht. Irgendwas fehlt.

Fixi: Der Funke springt nicht über.

Huf: Das Bild wirkt flächig, wie plastisch er auch malt …

Fixi: Die Figuren und Attribute wirken wie additiv nebeneinander gesetzt …

Huf: Der Bildraum kriegt keine Tiefe …

Fixi: Seine Perspektive hat was von M.C.Escher …

Blütenweiß (nachdenklich): Hm! Er malt ja auch oft die Figuren wie auf einer Bühne …

Wolle: Ausgestellt …

Grauchen (ebenso): Vor schwarzem Hintergrund …

Kohle: Na, der ist immerhin in Naumburg golden.

Flocke: Kommt! Laßt uns nochmal ein paar Fotos vom Altar anschauen. Ihr habt mich jetzt ganz verunsichert. Huf, hast du unser Tablet greifbar?

Der Pritschenwagen bremst.

Huf: Ich glaub, das lohnt nicht mehr …

Fixi (steckt die Schnauze unter der Plane hervor, freudig): Wir sind zuhause!

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers

 

PS: Diese Schafe! Bloß gut, daß sich in Naumburg noch eine Woche lang jeder selbst ein Bild vom Bild machen kann. Und auch dann ist der Altar nicht von der Bildfläche verschwunden, sondern kommt erstmal nach Paderborn.

Hier zur Gedächtnisstütze für die Ausführungen der beiden Lämmchen noch einige Aufnahmen der Schafe von ihrem Naumburg-Ausflug:

So sieht der Westchor des Naumburger Doms gerade aus

 

Das ist der Altar von etwas näher dran

 

Aus diesem Blickwinkel sieht man sehr schön, daß Michael Triegel seinen Christus (Altarrückseite) vor genau der Architektur des Naumburger Lettners gemalt hat.

 

Hier wollen die Schafe vermutlich zeigen, daß Uta wirklich genau auf den Altar schaut, nämlich auf die Rückseite des rechten Flügels mit der Gestalt der Barbara.

 

Hier sieht man tatsächlich sehr gut, daß sich bei aller Plastizität der Darstellung und dem tiefen Griff in die Trickkiste perspektivischer Darstellung eine wirkliche Raumwirkung auf den Bildern Michael Triegels nicht einstellen will.

 

(Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von Fixi und Huf)

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