Bevor am vergangenen Samstag, dem 28. Oktober, die Regensburger Domspatzen der katholischen Pfarrei Weimar ihre musikalische Aufwartung gemacht haben (ich konnte es mir leider nicht anhören und kann es daher auch nicht selber rezensieren), war pünktlich zum Gedenktag der Heiligen Hildegard am 17. September (2023 mit halbrundem Geburtstag) ein Konzert mit den mittelalterlichen Kompositionen der Visionärin, Medizinerin und Musikerin zu hören gewesen. Die Sopranistin Marijke Daphne Meerwijk, seit sieben Jahren in Weimar zuhause und seit langem mit dem Werk Hildegards künstlerisch befaßt, hatte, gespickt mit einführenden Texten, mit einigen dieser heute fremdartig anmutenden Werke den Kirchenraum allein durch ihre Stimme gefüllt.
Bevor ich das vergangene Konzert rezensiere, möchte ich auf ein kommendes hinweisen: Marijke Daphne Meerwijk ist eine vielseitige Sängerin und war im September nicht nur in der Produktion von Glucks „Orpheus und Euridike“ des Eckhoftheaters in Schloß Friedenstein Gotha zu hören. Sie wird auch am 5. November 2023 in Ilmenau anläßlich der dortigen Kirchweih mit dem in Herz Jesu Weimar ja gut bekannten Organisten Albert Schöneberger dessen Komposition „Vom Kreuz … zum Licht“ aufführen.
Ich könnte mir vorstellen, daß ein Besuch dieses Konzertes lohnen wird.
Nun aber zurück zu Hildegard und dem Konzert, das am 17. September 2023 bereits stattgefunden hat. Wie kommt man als Sängerin an das Werk einer Heiligen aus dem Hochmittelalter, um sich selbständig Stücke daraus für ein Konzertprogramm zu erarbeiten? Nun, 1998 feierte man den 900. Geburtstag Hildegards von Bingen (1098-1179). Zu diesem Jubiläum vor 25 Jahren erschienen eine Reihe von Biographien, Ausstellungskatalogen und Ausgaben ihrer Schriften und die Anerkennung ihrer Leistungen nicht nur als Klostergründerin und Äbtissin, sondern auch als Medizinerin, Pflanzen- und Sexualkundlerin, Visionärin, Kirchenlehrerin und Komponistin setzte sich meinem Eindruck nach in der Folge geradezu im allgemeinen Bewußtsein durch. Die Kräuterkundige paßt halt auch in den Öko-Diskurs.
Was die Kompositionen Hildegards betrifft, so hatten die zur 900-Jahrfeier erscheinenden Bücher nach wie vor nur davon berichten können. Man war noch dabei, ein Fenster aus der Rochuskapelle in Bingen zu restaurieren, das Hildegard als Komponistin zeigt. Da ich im Internet keine Abbildung des Fensters finden konnte, möchte ich Ihnen hier die Fotografie aus einem der Ausstellungskataloge des Jubiläumsjahres zeigen:
Denn ebenfalls erst 1998 erschien ein Faksimiledruck mit den Liedern Hildegards aus dem sogenannten Rupertsberger Riesencodex, der Hildegards Werke mit Ausnahme ihrer medizinischen und naturwissenschaftlichen Schriften aufbewahrt hat. Das schöne an diesem Codex ist, daß er die Melodien nicht nur in Neumen aufzeichnet, sondern diese bereits auf den damals üblich werdenden vier Notenlinien mit roter F-Linie und C-Schlüssel notiert. Die Tonhöhen der Melodie sind somit eindeutig festgehalten. Frei zu gestalten ist, scheint mir, nurmehr der Rhythmus, der im allgemeinen dem Fließen gregorianischer Gesänge angepaßt wird und der gewöhnlichen Sprach’melodie‘ folgt.
An den zum Teil mitten in der Zeile nach unten springenden roten Linien sieht man, wie oft der Notenschlüssel (als kleines c zwei Notenlinien über dem f erkennbar) verschoben wird, um ohne Hilfslinien die häufig eine Duodezime, zum Teil sogar bis zu zwei Oktaven ausschreitenden Melodiebögen zu notieren.
Auch diese durchaus bezahlbare Faksimileausgabe der Noten ist nun aber schon wieder 25 Jahre alt und hat Eingang ins Ausbildungsprogramm der Musikhochschulen – und den Notenschrank Marijke Daphne Meerwiijks gefunden. Die wie gesagt seit einigen Jahren in Weimar ansässige Niederländerin hat sich im Rahmen ihrer Spezialisierung auf Alte Musik mit den Gesängen auseinandergesetzt, die Hildegard nicht nur gedichtet, sondern auch komponiert hat. Mit kleinen Ansprachen zu Leben und Werk der Komponistin aufgelockert, gestaltete die Sängerin ein dreiviertelstündiges Soloprogramm, in dessen Melodien man sich mit der Zeit mehr und mehr einhörte. Obwohl das Hochmittelalter mit Fideln, Leiern, Harfen und Orgelportativen bereits über Melodie- und Harmonieinstrumente verfügte, ist es ebenso üblich, Hildegards Gesänge solistisch vorzutragen wie sie mit einem Streichinstrument oder Orgel zu unterlegen. Da sind, um diesen schönen Ausdruck auch einmal zu gebrauchen, der Phantasie glaube ich derzeit wenig Grenzen gesetzt.
Ein sehr schönes Konzert, bei dem ich mich allerdings fragte, ob der nicht ganz optimale Stimmsitz in der hohen Lage eben der Tatsache geschuldet war, daß die Sängerin ganz allein war – ohne Begrüßung und ohne jemanden, der oder die die besagten Sprechtexte übernommen hätte. Womöglich ist ein solches Programm zu zweit noch besser zu realisieren als ganz allein.
BILD Meerwijk1; BU: Marijke Meerwijk zeigt dem Konzertpublikum im Anschluß an ihr Soloprogramm am 17. September 2023 in Herz Jesu Weimar die Lieder Hildegards von Bingen im faksimilierten Teil des Riesencodex (eigenes Bild).
Cornelie Becker-Lamers
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