Zurüruck zum Inhalt

„Wirf deine Angst in die Luft“

(Schall-)Wellen sind Energietransport ohne Massetransport.
Anmerkungen zu den Corona-Schutzmaßnahmen

„Energietransport ohne Massetransport“ habe ich als Charakteristikum einer Welle im Physikunterricht gelernt. Unter den vielen Papieren, die derzeit in den Emailpostfächern von Chorleiter/innen landen, thematisiert diesen Tatbestand eine Studie des Freiburger Instituts für Musikermedizin zur „Risikoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Gesang“ vom 25. April dieses Jahres. Darin heißt es:

Die Tonproduktion erfolgt beim Singen mittels eines Ausatemstroms. Physiologisch ist diese Tonproduktion dadurch gekennzeichnet, dass dieser Ausatemstrom periodisch an den Stimmlippen unterbrochen wird. Dadurch strömen nach aktuellem physiologischen Wissensstand nur geringe Mengen Luft pro Zeiteinheit tatsächlich aus dem Mund der Sänger*innen aus. Die Luftmoleküle der Luftsäule im Vokaltrakt werden zur Schwingung angeregt und der Schall überträgt sich im Raum durch pendelartige Schwingungen der Luftmoleküle. / Inwieweit es durch das Singen zu einer vermehrten Aerosolverbreitung kommt, ist wissenschaftlich nach unserem Kenntnisstand bisher nicht untersucht. (Hervorhebungen von mir)

Das hat mir ausgesprochen gut gefallen! In der Tat ist es ja das Schwingenlassen der Luftsäule im Körper, die das wohltuende und wohltönende Singen vom heiser machenden und Schrecken verbreitenden Grölen unterscheidet. (Von daher könnte man vielleicht sagen: Chöre ja – volle Fußballstadien weiterhin nein?) Jedes Chormitglied kennt die Dirigenten-Mahnung beim Einsingen: „Stellen Sie sich vor, Sie halten sich eine Kerze vor‘s Gesicht. Die Flamme darf nicht flackern, während Sie singen! Inhalare la voce!!!“ Das geht in dieselbe Richtung. In seinem kurzen Video-Tutorial zum Thema spricht Thomas Dobmeier sogar von einer „Unterdrucktechnik“ des Singens:

Daß der Klang, der mein Ohr erreicht, nicht eins zu eins die Luft ist, die Singende kurz zuvor ausgeatmet haben, erhellt schon aus der Erkenntnis, daß Klang sich in alle Richtungen ausbreitet. – Genau: Jetzt nicht denken ‚Ach! Deshalb sind Tenöre häufig so dick: Die werden auseinandergezogen!‘ Das wäre falsch. – Strömte die Luft mitsamt Aerosolen von Singenden in alle Richtungen davon, stände ein Chor in der Tat ganz schnell im Vakuum bzw. in einem Wirbelsturm nachströmender Luft. Eine lustige Vorstellung, taugt aber eben nur für die Comiczeichnung. Es ist klar: Nur der Klang breitet sich um Musizierende wie um jede Schallquelle herum aus, nicht die Luft. Was mein Ohr trifft, sind die Schwingungen der Luftmoleküle, die(selben), die schon die ganze Zeit neben meinem Ohr herumwabern. Durch ihre Stimmlippen versetzen Singende die Luft in Schwingung und benachbarte Luftmoleküle stoßen einander an, ohne selber den Platz zu wechseln. Die Vorstellung, daß eine gestrichene Violinsaite ja auch nicht dem Publikum um die Ohren fliegt, sondern an Ort und Stelle ihren Klang erzeugt, hilft vielleicht auch noch einmal dabei, die Angst vor erhöhter Ansteckungsgefahr durch gemeinsames Singen auf ein rationales Maß zu reduzieren.

Die Tröpfcheninfektion, durch die sich Atemwegserkrankungen wie Covid-19 verbreiten, ist, das haben wir jetzt alle oft genug gehört, auf Spucketröpfchen und auf „in der Luft gelöste“ Viren („Aerosole“ aus gr. aër, die Luft und lat. solvere, lösen) in winzigen Feuchtigkeitspartikeln angewiesen. Daher die Abstandsregeln. Spucke fliegt dabei weniger weit als die Aerosole, die sich wohl recht lange in der Luft in der Schwebe halten können. Aber vom Ambo bis zur ersten Bankreihe dürfte doch der Platz in größeren Kirchen wie bspw. Herz Jesu Weimar reichen, um den Kantorendienst im gesungenen Kyrie, einem Zwischengesang und einem Halleluja wie allezeit durchführen zu können.

Denn ist Sprechen weniger gefährlich? Wir alle kennen die Schülerwitze über den Englischunterricht, in dem man sich mit dem Regenschirm vor der feuchten Aussprache der Lehrkraft beim „th“ schützen muß. Gerade Konsonanten befördern Feuchtigkeit aus dem Mund. Und gerade beim Sprechen gefährde ich dadurch andere, denn beim Sprechen schaue ich dem Gegenüber ins Gesicht. Ich spreche sozusagen direkt auf die empfänglichen Schleimhäute meines Gesprächspartners zu. Hier müßte die Gefahr einer Ansteckung daher doch eigentlich größer sein, als wenn ich („inhalare la voce“) „Aaaaaaaaaaaave Mariiiiiiiaaaaaaa“ singe, und zwei Meter neben mir (nicht: mir gegenüber) singt die nächste Sängerin das gleiche in dieselbe Richtung.

Die Luft, die ausströmt, strömt vor uns aus, einem Gegenüber ins Gesicht, an neben uns stehenden Mitsingenden aber vorbei. Singen in Choralschola- oder Vokalensemblegröße macht mir persönlich daher überhaupt keine Angst und ich würde es jederzeit zulassen – hätte ich diese Entscheidung zu verantworten.

Habe ich aber für Proben in Gemeindehäusern nicht.

Die Letztverantwortlichen sind da, das hat der Generalvikar jetzt in einem Maßnahmenpapier noch einmal betont, die Pfarrer, die entscheiden müssen, was sie in ihren Gemeinden zulassen können und was nicht. Und in diese Entscheidung fließen Anregungen aus den schon genannten vielen Studien ein, mit denen wir derzeit überreichlich eingedeckt werden. Das ist gut gemeint von denen, die uns diese Studien zusenden, denn wir sollen uns eine fundierte Meinung bilden können. Nur leider tappen in Sachen Corona derzeit noch ausnahmslos alle – auch die wissenschaftlich Tätigen – derart im Dunkeln, daß auch die wissenschaftlich fundierten Gebote Glaubenssache sind. Es sei denn natürlich, man läse Dirk Gintzel. Dann wäre der Fall erledigt und man sähe klar.
Bis dahin aber reichen die Vorgaben in den Richtlinien von ziemlich utopischen „mindestens 20 m² pro Sänger“ bis zu „3 m Abstand“. Wie man entscheidet, ist letztlich eine Frage, welcher Theorie man glaubt und was am plausibelsten erscheint. Die Entscheider, die sich in unserer Pfarrei heute zum dritten Mal in dieser Corona-Krise in größerer Runde treffen, sind jedenfalls nicht zu beneiden.

Abschließend zum Thema noch was für‘s Fernweh. Enjoy 😉 

Cornelie Becker-Lamers

 

PS: Die Überschrift ist dem Gedicht „Noch bist du da“ von Rose Ausländer entnommen.

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