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Wahrnehmung und Raum. Teil 1: Der profane Raum

Eine digitale Postwurfsendung zum Neuen Jahr

Via Email kursierte Anfang Januar als Neujahrsgruß das kleine Video eines “Erfolgstrainers” (“Life coach”), in welchem die Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Wahrnehmung reflektiert werden. Um bei der inhaltlichen Paraphrase und Besprechung nicht zu spoilern, müssen Sie das Filmchen einmal kurz schauen. Es ist ausdrücklich zum Teilen mit Freunden gedacht, nicht gekürzt und darf daher sicherlich auch auf unserem Blog erscheinen. Hier:

Hier wird von einem sozialen Experiment berichtet, das die Washington Post wohl schon im Jahr 2007 inszeniert und finanziert hat. Ein Spitzengeiger hat die sechs Solopartiten von Bach in  einer U-Bahnstation gespielt, ohne sonderlich aufgefallen zu sein. 

Unterlegt wird der reflektierende Text unseres Neujahrsgrußes verwirrenderweise allerdings mit „Jesu bleibet meine Freude“ aus einem anderen, in Weimar 😉  komponierten Bach-Werk, nämlich der Kantate „Herz und Mund“. Für ein Youtube-Video aus dem Jahr 2014, welches  das Projekt erneut nachbereitet, spielt Bell dann gar das a-moll-Konzert BWV 1041, hier (und hier ein Video der Situation in der U-Bahn).

Darauf kommt es offenbar aber auch überhaupt nicht an. Die Botschaft ist – weswegen der Film über die knapp 14 Jahre alte Aktion vermutlich auch jetzt, zu Beginn des neuen Jahres kursiert, das: Nimm die Schönheit wahr, wo sie sich dir bietet. Der Alltag ist voller Überraschungen. Takte dein Leben nicht so durch!

Zugleich werden räumliche Umgebung und Zeitpunkt als Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Wahrnehmung thematisiert.

 

Die ästhetische Schwelle

Die Kunstwissenschaft reflektiert die „ästhetische Schwelle“, die die Wahrnehmung auch alltäglicher Gegenstände als Kunst ermöglicht, schon recht lange. Vor gut hundert Jahren plazierte Marcel Duchamps (1887-1968) sein erstes Ready-Made in einer Ausstellung. Die Idee des objet trouvé, die Überführung eines Alltagsgegenstandes in die Kunst allein durch seine Dekontextualisierung, war geboren. Seither bestehen  Möglichkeit und Verpflichtung, über einen – überspitzt gesagt – Gerümpelhaufen im Museum in anderer Weise nachzudenken als an der Straßenecke. An der Straßenecke ist es Sperrmüll und ich kann überlegen, ob mein künftiger Abstelltisch darunter ist. Im Museum muß ich nachdenken, auf welche anderen Werke Künstler oder Künstlerin hier anspielen, ob sie eine Richtung weiterdenken oder sie parodieren, und was genau dem ‚Müllhaufen‘, so ausgestellt, ablesbar sein könnte. Und seither gibt es die Probleme in den Museumsdepots, die in dem schönen Plakat- und Aufkleberspruch „Ist das Kunst oder kann das weg?“ vor Jahren schon gültig auf den Punkt gebracht worden sind.

In Weimar mußte bekanntlich im Januar 2017 die Jubiläumsausstellung zu 10 Jahren Galerie Eigenheim schließen, weil ein die Wegwerfgesellschaft kritisierendes Kunstobjekt echten Leih-Plastikmüll aus dem Erfurter Rewe-Logistikzentrum in der ehrwürdigen Kunsthalle Harry-Graf-Kessler ausgebreitet hatte.

Zur Eröffnung war der Geruch gerade noch zu ertragen gewesen – und so hatte sich auch niemand ernstlich über dieses Kunstwerk gewundert, das zehn Meter weiter, vor der Tür, von städtischen Angestellten in orangefarbenen Westen aufgespießt und entsorgt worden wäre.
So funktioniert, was der Weimarer emeritierte Kunstwissenschaftsprofessor Karl Schawelka schon vor 30 Jahren die „ästhetische Schwelle“ genannt hat. Der Schritt durch die Museumstür beeinflußt unsere Wahrnehmung radikal.

 

Kunst im öffentlichen Raum

Professor Schawelka hat das u.a. in einem Aufsatz über Richard Serra und dessen Kunst im öffentlichen Raum entfaltet. Denn die Kunst im öffentlichen Raum hat genau dieses Problem: Sie können Plasteflaschen nicht einfach irgendwo im Stadtgebiet aufbauen. Die sind am nächsten Tag weg. Bei falsch plaziertem Sperrmüll u.U. inklusive Bußgeldbescheid an den Verursacher. Wie markiert man im öffentlichen Raum Kunst, die nicht mehr als solche erkennbar, weil nicht mehr skulptural, ausgearbeitet, ‚schön‘ oder sonstwie “besonders” ist – sondern bspw.  eine Reihe von Steinen, wie sie Ulrich Rückriem zur ersten Skulpturenausstellung 1977 in Münster aufgestellt hat?

Ulrich Rückriem, Dolomit zugeschnitten (1977) vor der Petrikirche in Münster/ Westfalen (Quelle wikimedia commons; User Rüdiger Wölk)

Hier ist jede Menge Vorwissen zur Einordnung des Gesehenen vonnöten – und entsprechend hoch ist das Aggressionspotential derer, die sich von diesem Wissen ausgeschlossen fühlen, solchen Skulpturen und Kunstobjekten gegenüber: Der Vandalismus bspw. auch an den Exponaten der langjährigen Biennale „Skulptur Weimar“ spricht da Bände.

Also: Vorwissen. Ausgerechnet die Kunst, die vorgibt, allgemeinverständlich zu sein und sich zu den Menschen zu begeben, erfordert ein weitaus höheres Maß an Spezialistenwissen und Vorkenntnis als Raffaels Sixtinische Madonna.

 

Das Schöne, seine Wahrnehmung und mögliche Reaktionen darauf

Und so ist es natürlich auch bei Joshua Bells Konzert im U-Bahnschacht. Wenn ich darüber nachdenke, meine ich, das Experiment der Washington Post springe zu kurz.
In Boston hatte Joshua Bell sein Konzert vor zahlendem Publikum gegeben. Er hätte nicht in Washington D.C., sondern ebenfalls in Boston auf der Straße spielen müssen, um zu sehen, ob dieselben Leute, die abends für teuer Geld seiner Kunst lauschen, für ebendiese mitten am Tag auf der Straße stehen bleiben würden – oder ob sie weitergehen. Das hätte die Faktoren hinreichend minimiert (ceteris paribus), um vielleicht etwas darüber herauszubekommen, was die Menschen zum Konzertbesuch motiviert: Daß es häufig auch das soziale Ereignis ist und viele auch deshalb ins Konzert oder bewußt in die Premieren einer Oper gehen, um zu „sehen und gesehen zu werden“, ist ja hinlänglich bekannt.

Und ist nicht die Einteilung der Zeit, eine Unterscheidung von Arbeitsalltag und festlicher Zeit, letztlich von profaner und heiliger Zeit (deren Platz die Kultur seit der „Kunstreligion“ des 19. Jahrhunderts mehr und mehr einnimmt), charakteristisch für die menschliche Kultur? Würden Sie an einem kostenlosen Straßenstand mal eben zwischendurch eine halbe Peking-Ente essen? Oder würden Sie ihren Terminen nachgehen und denken: ‚Ja! Chinesisch essen gehen – das wäre auch mal wieder was!‘? Ist nicht die Triebsublimation, die im Verzicht auf den spontanen und unmittelbaren Genuß steckt, ganz zentral wiederum für den egal wo zivilisierten Menschen? Kinder beherrschen sie noch nicht – das ist ihr gutes Recht und erklärt zugleich, warum Kinder die spontansten Zuhörer Joshua Bells im U-Bahnschacht waren.

Aber bis zu welchem Grad kann es wirklich sinnvoll in gute Vorsätze für das neue Jahr umgemünzt werden, mehr dem Augenblick zu leben? Ist das der Sinn des „So ihr nicht werdet wie die Kinder“? Reicht es nicht, einen Blick zu entwickeln für die besondere Schönheit von Alltagsgegenständen – nehmen wir als Beispiel die Wahrnehmung einer akkuraten Reihung von Einkaufswägen als graphische Gestalt. Muß ich, um alles richtig zu machen, in jedem Fall außer Stande sein, einen Wagen loszulösen und einkaufen zu gehen?

Eine akkurate Reihe gleichförmiger Einkaufswägen als graphisches Muster (eigenes Bild)

 

Fortsetzung folgt

 

Cornelie Becker-Lamers

 

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