Friedrich Spees „Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten“ und Brahms‘ romantische Klage
Alter Wein in neue Schläuche
Seit ich den Hintergrund des zum romantischen Klagelied umgedichteten Textes kennengelernt hatte, den Brahms in einen so schönen Chorsatz gegossen hat, trug ich mich mit dem Gedanken, den alten Text einmal der neuen Melodie zu unterlegen. Dieses Jahr habe ich es gemacht und wir haben en famille („Corona“ …) ein bißchen probiert. Spees Gedicht hat 15 Strophen und je zwei passen in eine Melodiestrophe von Brahms. Beim Anpassen des Textes muß man daher entscheiden, welche Strophe man für am ehesten entbehrlich hält. In Frage kommen eigentlich nur die zwölfte oder die dreizehnte. Ich habe mich für die zwölfte entschieden, in der einige ‚arma Christi‘ aufgezählt werden, denn in Strophe 13 beklagt Christus erneut seine völlige Verlassenheit sogar von Gott und das fand ich gewichtiger. Wie es der Zufall will, stellt die Silbe, die auf den Spitzenton des Brahms’schen Chorsatzes fällt, tatsächlich meist einen inhaltlichen Höhepunkt der Textzeile dar. Das hielt ich für ein gutes Zeichen und fühlte mich in meinem Tun unterstützt.
Das wie gesagt stark dialogisch angelegte Lied beginnt mit der Eröffnung durch einen Erzähler, der nachts eine Stimme hört, ihr zuhört und schaut, zu wem sie gehört: Einem wohlerzogenen jungen Mann, der (Spitzenton:) allein, voller Angst und halbtot am Boden liegt. Bald wird enthüllt, daß es Christus selber ist, der sich voller Angst und totenbleich hierher zurückgezogen hat.
Dann beginnt die direkte Rede Jesu, der seinen Vater um das ‚Transeat a me calix iste‘ bittet. Gottvater antwortet, woraufhin wieder Christus spricht und seine große Angst schildert (Spitzenton zweimal in Folge auf „muß“). Jesus klagt in Gedanken seiner Mutter sein Leid (Spitzenton auf „Du“ bzw. auf dem Namen „Maria“).
In den beiden letzten Strophen von Friedrich Spee ist unklar, wer das lyrische Ich ist. Es könnte weiterhin Christus sein – oder man entscheidet sich für die Lesart als Rahmenerzählung, eine Form, die im Barock sehr üblich ist. Dieses Verständnis ist zudem durch das romantische Klagelied bereits eingeübt, da Brahms‘ Lied ja nur einen Erzähler und keinen Dialog mehr kennt. Rahmenerzählung hieße dann, das lyrische Ich wäre auch am Schluß des Spee-Textes wieder der Erzähler der Anfangsstrophen. Er hat Christus zugehört, leidet nun mit ihm und spürt das Mitleiden der ganzen Schöpfung. Bei Alex Stock heißt es sehr schön: „In acht nehmend, trauert der, der das Lied dichtet und nachsingt, mit dem, dessen Verlassenheit er zur Sprache bringt“ (S. 214).
Volkslied oder Komposition
Bis hinein in Doktorarbeiten der 60er Jahre blieb in der Forschungsliteratur unklar, wie es sich mit der Urheberschaft von Brahms‘ „In stiller Nacht“ verhalte. Ja – bis heute wird auf Notenausgaben zum Teil explizit darauf verwiesen, trotz der Bezeichnung „Volkslied“ handele es sich um eine freie Komposition von Brahms. Sie können sich meine Verblüffung vorstellen, als ich das Lied im „Zupfgeigenhansl“ entdeckte, wo unter der Überschrift „Am Abend“ exakt Melodie und Text des Brahms‘schen Chorsatzes enthalten ist – allerdings mit der Angabe: „Nach Friedrich von Spee“ und „aus Döbeln in Sachsen“.
George Bozarth stellt allerdings in einem Artikel der Zeitschrift „Die Musikforschung“ von 1983 die Sache klar: Brahms hat sich mit Volksliedsammlungen u.a. des Verlegers und Musikalienhändlers Friedrich Wilhelm Arnold (1810-1864) beschäftigt. Bozarth schreibt: „Auf den Arnold-Doppelblättern ist die gesamte Melodie mit dem Text der ersten Strophe von „In stiller Nacht“ unter der Titelüberschrift „Todtenklage“ verzeichnet. Es können also kaum Zweifel darüber bestehen, daß Brahms von diesem Lied und seinem geistlichen Vorläufer „Miserere mei, Deus“ durch Arnold erfahren hat, aus dessen Sammlung er auch die übrigen Volkslieder auf diesen Manuskriptblättern übernommen hat.“ (S. 187)
Ich bin, auch bedingt durch die seit langem anhaltenden Schließungen der Bibliotheken, mit den Nachforschungen zu diesem Lied und seinen Quellen noch nicht zum Ende gekommen. Das Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck weiß schon mal nicht Bescheid, da Brahms 80% seines Nachlasses bei seinem Tod 1897 der Gesellschaft der Musikfreunde Wien vermacht hat. In deren Archiv müßten sich die Nachfragen daher fortsetzen, wollte man den Ursprüngen von Text und Musik weiter auf die Spur kommen.
Stichpunkte zu einem textlichen Vorläufer
Ein inhaltliches Vorbild des Textes von Friedrich Spee könnte allerdings meine Lektüre des Zupfgeigenhansl zutage gefördert haben. Wenige Seiten vor der „Stillen Nacht“ findet sich dort nämlich ein 1619 (Sie erinnern sich: Spees Gedicht war um 1630 entstanden und 1649 erstmals publiziert) ebenfalls in einem Kölner Gesangbuch veröffentlichtes Lied, welches das Mitleiden des Kosmos bei der Passion mit z.T. ganz ähnlichen Worten beschreibt: „Da Jesus in den Garten ging“.
Dieses geistliche Lied stellt das Mitleiden der Natur nicht nur an den Schluß, sondern auch gleich an den Anfang. In der ersten Strophe schon „trauert alles, was da was, da trauert Laub und grünes Gras.“ Noch näher am Text Spees ist Strophe 7, als auf Weisung Mariens sich die Bäume biegen, die Felsen bersten, die Sonne erbleicht und die Vögel zu singen aufhören:
Nun bieg dich, Baum, nun bieg dich, Ast!
Mein Kind hat weder Ruh noch Rast,
nun bieg dich, Laub und grünes Gras,
laßt euch zu Herzen gehen das!“Die hohen Bäum, die bogen sich,
die harten Fels zerkloben sich,
die Sonn verlor ihrn klaren Schein,
die Vögel ließen ihr Singen sein.
(All das selbstverständlich im guten Einklang mit dem biblischen Bericht von der symbolischen oder wundersamen Sonnenfinsternis [Pascha, Christi Tod, ist ja zu Vollmond und für eine Sonnenfinsternis braucht es Neumond – und sie kann nicht drei Stunden andauern]. In meiner Bibelübersetzung steht tatsächlich genau „Die Sonne verlor ihren Schein“ [Lk 23, 45] Und es steht im Einklang mit dem Bericht vom Erdbeben und Bersten der Felsen [Mt 27, 51]).
Wirkungsgeschichte
Natürlich gehört auch zu dieser Beschäftigung mit einem Lied wieder eine persönliche Geschichte. Und natürlich hängt sie wieder mit meinem Vater zusammen. Meine Eltern besuchten mich in Erfurt und ich hatte zufällig die CD mit Brahmsliedern laufen, in der Fassung für Sologesang und Klavier, interpretiert von Brigitte Fassbaender. Als „In stiller Nacht“ begann, horchte mein Vater auf und trat näher an die Lautsprecher heran. Als das Lied zu Ende war, sagte er: „Ich habe mein Leben lang nach diesem Lied gesucht und wußte nicht, von wem es ist.“ Er hatte es als Kind einmal vom Schulchor singen hören, auf dem Schulhof, bei einem Appell, nachdem – wie immer am letzten Schultag vor den Ferien – die Namen der Ehemaligen des Gymnasiums verlesen wurden, die im vergangenen Trimester im Krieg gefallen waren.
Cornelie Becker-Lamers
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