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“O thou who changest not, abide with me” (3/3)

Beten

Beenden wir nun unseren Beitrag mit für meine Begriffe einem der schönsten Lieder, die Eingang ins Gotteslob gefunden haben. Es ist das Lied „Bleib bei uns, Herr“, das in einem sehr sanglichen Chorsatz in der nicht gereimten Nachdichtung von Franz-Josef Rahe und Paul Ringeisen zu Melodie und Satz von William Henry Monk (1823-1889) unter Nummer GL 94 zu finden ist. Monk vertonte hier einen bis heute im Vereinigten Königreich außerordentlich populären Hymnus von Henry Francis Lyte (1793-1847). Lyte verfaßte den Text, dessen zweiter Strophe der Titel unseres Beitrags entnommen ist, kurz vor seinem eigenen Tod. Die von mir eingangs angesprochene Metapher des „Abends“ für den Tod ist hier besonders greifbar.

Das Lied ist ein „(ö)-Lied, im GL zwar nicht als solches gekennzeichnet, aber selbstverständlich findet sich dieses anglikanische Must-have auch im deutschen Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 488. Zwar ist hier nicht der Chorsatz von Monk mit abgedruckt. Aber die Textübertragung ist deutlich besser, das muß man leider sagen. Alle fünf Strophen sind hier von Theodor Werner 1952 fast wörtlich, aber auch im Deutschen in Reime gefaßt übertragen worden.

Als Hörbeispiel möchte ich Ihnen ein auf dem originalen Chorsatz beruhendes, aber durch Stephen Cleobury mit Oberstimmen angereichertes Arrangement des King’s College Choir Cambridge aus dem Jahr 2011 verlinken. Den englischen Text finden Sie direkt unter dem Film auf YouTube unter dem Stichwort „mehr ansehen“. Enjoy 🙂 !

Neben dem schönen Arrangement mußte es an dieser Stelle die originalsprachliche Fassung sein, weil ich durch das Stichwort „abide!“ – „warte!“, „bleib!“ mal wieder einen kleinen Ausflug in die Etymologie mit Ihnen unternehmen möchte 🙂 . Ich habe ihn schon lange geplant, weil ich die Sache auch schon einmal im Bibelkreis auf meine Freundinnen und Freunde inklusive Professor em. Hentschel losgelassen habe, als es anhand von Psalmen darum ging, ob Gott überhaupt „heute noch“ Gebete erhöre. Durch das „Abide with me“ bietet es sich an, den sprachgeschichtlichen Aspekt des Themas „beten“ auch auf PuLa einmal anzuschneiden.

Abide heißt warten. Erinnert das Wort Sie an etwas? An das Wort bid – die Bitte – zum Beispiel? Dann haben Sie ein sehr gutes Sprachgefühl und sind absolut auf der richtigen Spur. Abide vom Altenglischen bidan, bleiben, wird im englischen etymologischen Wörterbuch mit den entsprechenden Begriffen des Althochdeutschen, Gotischen, Altsächsischen, Altfriesischen etc. in Verbindung gebracht, die sämtlich mit winzigen Abweichungen bidan, biden, bitan, bida etc. lauten und allesamt warten bedeuten. Aus dem deutschen etymologischen Wörterbuch geht hervor, daß auf dem Weg ins Mittelhochdeutsche der mittlerweile zum Wort beiten abgeschliffene Ausdruck durch das Wort warten abgelöst wird. Das deutsche Stichwort beten liefert den Hinweis auf das Wort bitten, zu welchem wiederum das gotische bida etc. der älteren Stufen der verwandten Sprachen begegnet.

Wie kommt es zur Übernahme des Wortes warten für die Idee von beten? Die Sprachhistoriker weisen darauf hin, daß den Germanen die Idee des Betens in unserem Sinne nicht geläufig war. Wie auch? Setzten die unseren Vorfahren bekannten Zaubersprüche den Eingeweihten doch in den Stand, herbeizuführen, was er wünschte: „insprinc haptbandun inuar uigandun“ – „Entspring den Banden, entweich den Feinden“ heißt es zum Beispiel im ersten der Merseburger Zaubersprüche, während der zweite in den Stand setzt, Knochenbrüche zu heilen: „bên zi bêna, bluot zi bluoda, lid zi geliden, sôse gelîmida sîn.“ – „Bein zu Bein, Blut zu Blut, Glied zu Gliedern, wie geleimt sollen sie sein.“ (Überflüssig zu erwähnen, daß auch diese Zitate mir aus dem Munde meines Vaters von Kindheit an bekannt sind und mir dadurch die Liebe zu diesen Sprachzeugnissen untrennbar von ihrer Kenntnis ist 😉 ).

Die Merseburger Zaubersprüche; heute Domstiftsbibliothek Merseburg; das oben Zitierte ist hier ab der Mitte der dritten und in der vierten Zeile bzw. zu Ende des zweiten Abschnittes zu lesen. (Quelle wikipedia gemeinfrei)

Die Idee des Betens im christlichen Sinne mußte auf einen bekannten Begriff gebracht und wie ein Lehnwort übernommen werden. Das christliche Beten zeichnet sich nicht mehr dadurch aus, daß wir selber das Ersehnte herbeiführen können. Wir bitten um die Aufmerksamkeit, zu bemerken, wann Gott uns das Erflehte schenkt. Wenn wir beten, warten wir. So scheint das Tertium Comparationis von warten und beten das Vertrauen zu sein – noch erhalten im lateinischen fidere (die Lautverschiebung eines labialen Reibelautes zum bilabialen Verschlußlaut kennen wir ja zur Genüge aus life/Leben, love/lieben, have/haben etc. So erklärt sich auch die Verwandtschaft von fidere und bitten.) Unser Gottvertrauen ist die Empfindung, die uns erwarten läßt, was wir erflehen.

 

Cornelie Becker-Lamers

“O thou who changest not, abide with me” (2/3)

Warten

Auch für den zweiten Teil meines Beitrags über die „Bleib-bei-uns“-Stücke möchte ich die Chronologie unterlaufen und mit dem wunderschönen Chorsatz eines Musikers beginnen, den wir auf PuLa schon einmal mit einer Komposition vorgestellt haben: Rudolf Mauersberger (1889-1971). Allerdings mußten wir diesmal erst persönlich tätig werden. Denn das Lied ist nur in einer Aufführung auf YouTube zu hören, die man eigentlich nicht hören möchte. Es war mir einfach nicht schön genug gesungen, um es Ihnen hier zu empfehlen. Bei den reizvollen Harmonien, die Mauersberger einsetzt, mußte eine intonatorisch saubere Einspielung her. Da ich aber gerade nicht genügend Stimmen zur Hand habe, sind wir einen Kompromiß eingegangen: Meine Tochter singt den Sopran des Chorsatzes und ich spiele alle vier Stimmen auf dem Klavier dazu.

Ein schlechter Ersatz. Ich weiß. Nichts, aber auch gar nichts kann die menschliche Stimme ersetzen. Unter anderem, weil nur die menschliche Stimme zugleich Sprache in der Musik transportieren kann. Und die Details des Textes sind auch in Mauersbergers Vertonung hochgradig relevant, etwa wenn erst im zweiten Akkord der Tenor den Ton aus dem Alt aufnimmt, mit seiner in Sekundschritten abwärts führenden Phrase beginnt und durch den versetzten Einsatz die Anrede doppelt: „Herr … Herr bleib bei uns!“ Desgleichen der Baß, der in der letzten Melodiephrase durch die Wortwiederholung seines versetzten Einsatzes mit seinem „Bleib“ das Flehentliche dieser Bitte unterstreicht: „Bleibe … bleib bei uns, es will Abend werden.“ (T. 29 – die Noten zum Mitlesen finden Sie übrigens hier)

Nichts kann das ersetzen.

Aber die Harmonien konnten wir mit dem Klavier halbwegs (#temperierteStimmung …) sauber herausstellen. Und die sind eben auch sehr schön und selbstverständlich sehr klug textausdeutend gewählt. Während das Wort „Herr“ ausschließlich in reinen Akkorden erscheint, zweimal in der Tonika (also der Grundtonart des Stückes) Es Dur und einmal in einer kleinen Terz, die zur Mollparallele c gehören könnte, aber versöhnlich in die Subdominante As Dur aufgelöst wird. Ebenso das Wort „bleib“ oder „bleibe“, dessen Vertonung sich ausschließlich in den reinen Akkorden von Tonika und Dominante (B Dur), deren Mollparallelen c und g und der Subdominante As Dur findet. Der göttliche Bereich des Herrn und seiner Treue zu uns ist den reinen Akkorden und den schlichten, klaren Strukturen einer tonalen Harmonik zugeordnet. Ein Gesang der Engel.

Dreimal im Verlauf des Stückes aber bricht die Komposition herb aus diesen einfachen Strukturen aus. Die Subdominante tritt uns in Moll entgegen. Der Akkord wird zudem durch Vorhalte von Septime oder None ins dramatisch Dissonante verzerrt, um lediglich in die Sekundreibung der Sixt ajoutée geführt zu werden. Eine wirkliche Auflösung findet an diesen Stellen nicht statt. Es sind die Worte „Abend“ (T. 10 und 31) und „uns“ (T. 23), die durch diese Dissonanzen verknüpft werden. Der irdische Bereich des Menschen und seiner Ängste, seiner Sterblichkeit und Verlassenheit wird spürbar in den Akkorden, in denen keine Auflösung erfolgt. Die Erlösung läßt auf sich warten, und sie findet sich nur bei Gott und seiner unverbrüchlichen Treue zu uns.

Diese, der Vertonung ablesbare, Intention der Komposition sollte bei jeder Interpretation des Stückes hörbar werden. Wir hoffen, wir haben das in Ansätzen erreicht und möchten Sie nun nicht länger mit theoretischen Erläuterungen von einem ersten Höreindruck abhalten. Hier kommt Rudolf Mauersbergers 1926 geschriebenes „Herr, bleibe bei uns“ in einer Fassung für Sopran und Klavierbegleitung. Enjoy 🙂

Bevor wir als krönenden Abschluß unserer Liedvorstellungen zum Original des „Bleibe bei uns“ aus dem Gotteslob (GL 96) in einem herzzerreißend schönen Arrangement vordringen und dann auch endlich über die Herkunft unseres Beitragstitels aufklären, hier noch eine Frucht des Lockdowns. Also den „Herr, bleibe bei uns“-Kanon kennen ja alle. Und natürlich haben sich auch wieder ein paar übliche Verdächtige an dem Emmaus-Thema kompositorisch vergriffen. Hierauf möchte ich nicht verlinken. Sehr ordentliche Musik hingegen macht eine (oder die???) „Kirchenband“ mit jungen, schönen Stimmen, die Ostern 2020 ein 1991 von Gregor Linßen (*1966) geschriebenes Lied aufgenommen hat und damit einen weiteren Beweis dafür liefert, welches Verbrechen es war und ist, all solchen Menschen seit einem geschlagenen Jahr das gemeinsame Musizieren zu verbieten. Hören Sie zunächst einmal das Lied:

Ich pflege ja bei Liedern, die solche Schmusestimmung und Lagerfeuerromantik verbreiten, gerne von „akustischem Campinggeschirr“ zu reden. Es ist ein von mir geprägter Kampfbegriff, um zu verdeutlichen, daß das Neue Geistliche Lied, etwa zur Gitarre gesungen, genausowenig in die Heilige Messe gehört wie man auf die Idee käme, die Wandlung im Alubecher zu vollziehen. Allerdings muß man nach allem, was man aus anderen Pfarreien so hört, vermutlich mittlerweile sagen: bisher niemand auf die Idee gekommen ist, die Wandlung im Alubecher zu vollziehen … wer weiß, was noch kommt … Aber – das ist eine andere Baustelle!

Da die christliche Erziehung sich jedoch nicht ausschließlich in der Heiligen Messe abspielen kann und sollte, haben solche Lieder und Interpretationen für Freizeiten, Treffen, Wallfahrten, das Singen im Unterricht etc. meines Erachtens absolut ihre Berechtigung und ich wollte auf diese wirklich qualitätvolle Einspielung unbedingt hingewiesen haben.

 

Fortsetzung folgt

 

Cornelie Becker-Lamers

 

PuLa reloaded: Conversi ad Dominum – oder: Wie ich lernte, die Pfarrkirche zu lieben

Mittwoch ist PuLa-Reloaded-Tag und nach dem überaus erfolgreichen frühen Sketch ‘Die Beichthotline, den Cornelie ursprünglich vom 1.6.2011 veröffentlicht hat, möchte ich heute an einen Text von mir erinnern, der am 14.10.2011 zuerst erschienen ist, und bereits etliche der Komplexe aufweist, mit denen wir uns dann in den kommenden Jahren beschäftigt haben – weil wir uns damit beschäftigen mußten

Wir sehen hier unser Eintreten für eine würdige Liturgie, gegen unsinnige modische Veränderungen unseres Kirchbaus, bescheiden inspiriert von den Werken Josef Ratzingers/Papst Benedikts. Immer bezogen auf die ganz konkreten Vorgänge vor Ort, weil wir fanden (und immer wieder geschrieben haben), daß es berufenere Münder gab, als unsere, sich zu den großen Fragen in einem allgemeinen Kontext zu äußern, freilich aber auch, daß eben diese Fragen sich überall spiegeln, auch in der mitteldeutschen Diaspora, auch in Weimar, und daß ein(e) jede(r) sich da einsetzen sollte, wo sie/er hingestellt ist.  

Wir sehen schon hier, wie wir später noch öfter sehen sollten, wie in manipulativer Weise versucht wurde, vermeintliche Expertise von außen zur Erreichung von “Weimarer” Zielen zu nutzen und wir ahnen schon von Ferne, wie sofort alle “Gemeindebeteiligung”, die irgendwie den Namen verdient hätte, sofort abbricht, sobald sie “droht” in kontroverse, also echte!, Diskussion zu münden…

Und wie oft haben wir die Frage wiederholt: Wo ist die “alte” Innenausstattung unserer Kirche eigentlich geblieben, die sie so viel mehr der Andacht zuträglich und, ja, ‘heimeliger’ gemacht hat, und wieder machen würde! Bis heute haben wir nur den immerhin dringenden Verdacht, es könnte noch viel mehr da sein, als gemeinhin zugegeben wird!

In der Gesamtschau kann ich nicht umhin, wehmütig zu schmunzeln, wenn ich dem Text den Optimismus abspüre, der mich damals noch erfüllte, es müsse doch möglich sein, über das eine oder andere zu reden und das auf der Basis allgemeinverbindlicher Kriterien und, wage ich es zu schreiben?, der Autorität eines der größten Theologen des 20. Jahrhunderts, der obendrein vor wenigen Jahren der erste deutsche Papst seit dem Mittelalter geworden war.
Bald, nur allzu bald sollte uns beginnen zu dämmern, auch und gerade mit den hier angesprochenen Themen und den dazu eingenommenen Standpunkten hatten wir bereits “verspielt” und wenn wir danach nie wieder eine Zeile geschrieben hätten.

Denn wir hatten die Kreise der “also: Weimarer” gestört, auch wenn es noch Jahre bedurfte, um diese Erkenntnis gültig formulieren zu können (wie es Cornelie hier getan hat), und ihr volles Ausmaß zu umschreiben. Die Zukunftslosigkeit dieses “Systems”, der “Dorflogik”, haben wir früh gespürt, heute ist sie mit Händen zu greifen und “Corona” wirkt nur als Beschleuniger. 

Inhaltlich aber ist mein Text, finde ich, wie man heute so sagt, “gut gealtert”, doch sehen Sie selbst:

 

Conversi ad Dominum – oder: Wie ich lernte, die Pfarrkirche zu lieben

[conversi ad dominum, lat.: „dem Herren gemeinsam zugewandt“]

Manchmal bedrückt es mich fast ein wenig, wenn ich feststelle, wie wenige Menschen das Glück zu schätzen wissen, das es bedeuten kann, von Kindesbeinen an, sozusagen „schon immer“, in der gleichen Umgebung zu leben. Wie vielleicht auch schon die Eltern und Großeltern vor ihnen.

Heutzutage wird das ja gerne runtergemacht und von interessierter (meist ökonomischer) Seite singt man das Hohe Lied der Mobilität und wie man sich doch überhaupt nur in der Ferne selber finden oder lieber gleich „verwirklichen“ könne und man kann es gar nicht oft genug sagen, was das in der üblichen Einseitigkeit für ein Blödsinn ist!

Ein besonders eindringliches Beispiel dafür ist natürlich das Kirchengebäude, das man von klein auf kennenlernt, mit dem man Erinnerungen an scheinbar unzählige Weihnachten verbindet, in dem man zum ersten Mal den Geruch von Weihrauch kennenlernt, in dem man zur ersten Hl. Kommunion geht und Meßdiener wird, wenn es gut läuft. Welches Kind käme auf die Idee, den Kirchenraum ästhetisch zu bewerten? Und wenn es der Jugendliche schließlich tut, dann löscht das die Bindungen an das Wichtige, was dort geschah und erlebt wurde nicht aus!

Wie anders, wenn man als Erwachsener umzugsbedingt gezwungen ist, sich mit einem unvertrauten Kirchenraum in ein Verhältnis zu setzen! Und so muß ich zugeben: Als wir Ende 2004 nach Weimar kamen, hatte ich mit der „Pfarrkirche Herz-Jesu“ so meine Schwierigkeiten!

Denn, seien wir doch mal ehrlich, das Gebäude ist ein Kind seiner Zeit: Es huldigt, obrigkeitlich verordnet, dem architektonischen Eklektizismus seiner Zeit, es ist „innen kleiner als außen“, soll heißen, Repräsentationselemente und „Nutz“-fläche stehen in keinem guten Verhältnis, kurz, es stammt eben aus Weimars „silbernem Zeitalter“ und das hatte immer einen Hauch von “ Mehr Schein als Sein“ (was übrigens meiner unmaßgeblichem Meinung nach auch für etliche Kompositionen des Förderers Franz Liszt gelten könnte, aber das nur am Rande).

Und in den „wunderbaren“ 60er Jahren, wohl 1964, wurde die steinerne Hülle zu allem Überfluß auch noch ihres bildnerischen Schmucks bis auf wenige Reste beraubt (übrigens: Wo sind die Sachen eigentlich geblieben??)

Viel wichtiger aber als all das: Die Kirche steht falsch herum! Der Chor mit dem Altar schaut nicht in Richtung Osten, sie ist, wie man sagt, nicht „geostet“, sondern schaut ziemlich genau nach Westen. Auch das ist natürlich ein Resultat der Tatsache, daß der katholische Kultus in Weimar Jahrhunderte lang verboten wurde (und nicht etwa, wie man unlängst lesen durfte, „zum Erliegen kam“…) und als er „gnädigerweise“ wieder zugelassen wurde, da wurden wir im Wortsinne an den (Stadt-)Rand gedrängt und mußten bauen, wie es eben ging.

Und die Frage der Gebetsrichtung ist eben auch im Christentum nicht gleichgültig, wenn auch natürlich nicht von der Bedeutung wie in anderen Religionen. So wurden christliche Gebetsräume ab den frühesten Zeiten geostet und damit verdeutlicht, daß das liturgische Geschehen und besonders sein Höhepunkt in der Eucharistie eine schlechthin kosmische Dimension hat. Wir wenden uns der aufgehenden Sonne zu als Symbol für den auferstandenen Christus, dessen Wiederkunft wir erwarten und werden durch dieses Zeichen zugleich an das konkrete Sich-Zeigen Gottes in der Welt erinnert.

Sagt uns das nicht auch schon die eigene praktische Erfahrung? Wenn in St. Bonifatius, in „unserem“ Karmel, während der Messe die Sonne aufgeht, bedarf es da noch besonderer Erläuterungen? Oder spürt man nicht einfach, diese Richtung stimmt und der (frühe) Morgen ist die richtige Zeit für die Messe? (Weshalb übrigens die Abschaffung der 8.30 Uhr Messe dort ein dauerhafter Verlust bleibt) Und was man von dem gelegentlich zu hörenden Spruch zu halten hat, der Herr habe ja eigentlich ein Abend-mahl gespendet und keine Frühmesse, das spürt man hoffentlich gleich mit…

Ja, und dann brach bei uns die furchtbare Zeit der „Altarinsel“ in der Pfarrkirche an, als die Drohung im Raum stand, es könne dauerhaft so kommen und manche ja auch fast alles dafür taten, wie z.B. in Erfurt wahrheitswidrig zu behaupten, es seien ja eigentlich alle dafür. Ganz egal, daß die Praktiker sagten, nun funktioniere der Raum von den Abläufen her überhaupt nicht mehr, egal, daß ganze Teile des Kirchenraums quasi dysfunktionalisiert wurden (was sollte denn der Chorbereich nun noch sein außer Weihnachtsbaumaufstellplatz?), egal scheinbar, daß über Wochen unser kleines Ständerkreuz jeden Sonntag woanders stand! Egal vor allem scheinbar auch, daß sich das ganze Geschehen wegbewegte vom großen Kruzifix, das im Altarraum verloren hängen geblieben war. Die Assoziation „Weg vom Kreuz“ war überhaupt nicht zu vermeiden und sie war in höchstem Maße schmerzhaft!

Und warum das alles? Wegen einer theologischen Mode aus den, ahnen Sie es schon? Genau: Aus den 60er Jahren! Denn damals kam das tendenziell nichts weniger als häretische Mißverständnis in Umlauf, das die Eucharistie auf das „Mahl-Geschehen“ verkürzen wollte. Nein, der HERR hat uns/der Kirche nicht aufgetragen ein (Abend-) Mahl zu seinem Gedächtnis zu feiern, er hat die Eucharistie gestiftet mit dem Opfer seiner selbst und damit etwas völlig Neues in die Welt gebracht und dieses Neue will auch „neu“ gefeiert werden. Wenn also in der berüchtigten Gemeindeversammlung zu diesem Thema am 14. März 2009 ein Bild von (irgend-) einer Mahlgesellschaft zur Begründung hochgehalten wurde, man müsse sich zum Gedächtnis jetzt rund um einen „Tisch“ (den Altar) versammeln so war das schon im Ansatz verfehlt. Hinzu kommt, daß neuere Forschungen längst ergeben hatten: In einem Kreis fanden antike Gastmähler gar nicht statt! Vielmehr war hier der Gastgeber bzw. Vorsitzende des Essens mit den Gästen an einer Seite des Tisches versammelt, schauten also grundsätzlich in die gleiche Richtung! Unsere Veralberung damals war also eine doppelte, theologisch und historisch.

So legt also das Wesen dessen, was wir Sonntag für Sonntag feiern dürfen wie das, was wir über das Geschehen im Abendmahlssaal ahnen können, nahe, genau das zu tun, was die Kirche durch Jahrhunderte getan hat: Uns gemeinsam, Priester und Volk, dem Herren zuzuwenden! Die Erhabenheit dessen, was da geschieht übersteigt („transzendiert“) ohnehin alles denkbare menschliche Handeln und Interagieren, weshalb der Priester in diesem Moment ja auch „in persona Christi“ handelt. Ob man ihm dabei ins Gesicht sehen kann ist bestenfalls nebensächlich, schlimmstenfalls störend. Und deshalb ist die immer noch anzutreffende Polemik gegen das „altmodische“ „Zelebrieren mit dem Rücken zum Volk“ ja auch ein so ein schwer nachvollziehbares Mißverständnis, erklärbar leider nur mit dem Verlust des Empfindens dafür, worum es eigentlich geht: Um den HERREN selbst. Seine sakramentale Anwesenheit ist alles, was in diesen Augenblicken zählt, nichts sonst und alles, was davon ablenken könnte ist folglich zu vermeiden.

Aber auch wer dem Gedankengang so weit gefolgt ist könnte jetzt einwenden: Wenn wir uns dem Herren gemeinsam zuwenden sollen, und die korrekte Richtung dafür ist nach Osten, sollen wir dann in „Herz-Jesu“ künftig während der Wandlung alle mit dem Gesicht zur Orgel stehen? Oder alles nochmal ganz anders einräumen? Haben wir nicht gerade gelesen wie schrecklich es sein kann, in der Kirche zuviel umzuräumen?

Keine Sorge! Es gibt eine Lösung für Kirchengebäude, die nun einmal nicht geostet sind und niemand geringerer als Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. hat sie aufgezeigt in seinem Buch: Der Geist der Liturgie, Freiburg, 2. Aufl. 2006, hier bes. S. 64 – 72, auf dem im übrigen alle theologischen Einlassungen dieses Eintrags beruhen, und das ich nur wärmstens, allerwärmstens!, zur Lektüre empfehlen kann (KÖB!).

Wir haben es gerade während seines Besuchs selber in jeder Messe sehen können; die Lösung ist: Ein Kreuz auf dem Altar! Hören wir ihn in seinen eigenen Worten:

„Die Richtung nach Osten wurde […] mit dem »Zeichen des Menschensohns« in Verbindung gebracht, mit dem Kreuz, das die Wiederkunft des Herrn ankündigt. So wurde der Osten sehr früh mit dem Kreuzeszeichen verbunden. Wo die direkte gemeinsame Zuwendung zum Osten nicht möglich ist, kann das Kreuz als der innere Osten des Glaubens dienen. Es sollte in der Mitte des Altares stehen und der gemeinsame Blickpunkt für den Priester und für die betende Gemeinde sein. So folgen wir dem alten Gebetsruf, der an der Schwelle der Eucharistie stand: »Conversi ad Dominum« – Wendet euch zum Herrn hin.“ (Hervorhebung von mir)

Und? Rechne ich damit, daß wir in Weimar dem Beispiel des Hl. Vaters folgend bald ein solches Kreuz auf dem Altar sehen werden? Leider nein, obwohl die Fernsehbilder der Papstmessen ja unzweifelhaft deutlich werden ließen, daß trotzdem die „Akteure vor der Kamera“ (vgl. Vermeldungen vom 19. Sonntag im Jahreskreis, S. 2, interessantes Selbstbild, das da zum Vorschein kommt, oder?) in den ach so wichtigen ZDF-Gottesdiensten noch zu sehen sein würden (auch wenn das während der Eucharistie i.e.S. eben völlig unerheblich ist!).

Nein, jetzt komme ich mit dem zweiten Teil der Überschrift dieses Eintrags zur Pointe dieser skizzenhaften Einlassungen.

Es ist schon soweit! Seit der Altar wieder da steht, wo er hingehört, hängt das Kreuz ja  genau in der Mitte darüber!

Wir haben es also schon, das objektive liturgisch-architektonische Element ratzingerscher Prägung, den gemeinsamen Blickpunkt, unseren Weimarer „inneren Osten“.

Und alle, die es sehen wollen, dürfen sich jetzt im Hochgebet, genauer bei den Intercessiones, die ja aussprechen, daß die Eucharistie in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche begangen wird, noch intensiver mit genau diesem Hl. Vater verbunden fühlen. Den Kopf um ein weniges heben genügt.

Tja, so kam es, daß ich „lernte die Pfarrkirche zu lieben“ und mittlerweile kann ich es sogar genießen, wenn in einer Abendmesse die Sonne durch die Fenster scheint… 😉

(Ende Originaltext)

 

Ein rein faktisches Detail allerdings wissen wir heute besser: Es waren nicht Stadt und Großherzog, die damals die Ostung verhindert haben, sondern offenbar schon zeitgenössisch  ein innerkatholisches Versagen, von dem man auch den damals zuständigen hochwürdigsten Herrn Bischof von Fulda nicht freisprechen kann. Das kam bei einer verdienstvollen Ausstellung zur 125-Jahr-Feier der Kirchweihe im Jahr 2016 heraus (auch wenn diese leider aufgrund mangelnder konzeptioneller Durchdringung viel Potential verschenkte).

Gereon Lamers

“O thou who changest not, abide with me” (1/3)

Bleiben

 

Heute, am Oktavtag des Ostermontag, möchte ich hier noch ein paar Musikvideos zusammenstellen, deren Kompositionen das „Bleib bei uns, denn es will Abend werden“ der Emmausjünger zum Thema haben:

Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. (Lk 24,29).

Was mich an diesen Stücken schon immer fasziniert hat, ist die Tatsache, wie durch die Dekontextualisierung des Zitats aus einer Floskel der Gastfreundschaft – Sie wollen doch nicht jetzt bei der Dunkelheit noch weiter?! Bleiben Sie hier, im Schutz unseres Hauses, und essen Sie mit uns – ein Gebet zum Herrn wird. Plötzlich ist nicht mehr der fremde Wanderer der Einsame, der potentiell Bedrohte und Schutzbedürftige, sondern wir, die wir die Bitte Christus gegenüber aussprechen: Bleib bei uns. Aus dem schlicht tageszeitlichen „Abend“ der Bibelstelle wird die Dunkelheit im metaphorischen Sinne. Aus dem „Abend“ wird der Tod.

Ich möchte nicht chronologisch vorgehen, sondern nach meinen Vorlieben. Daher kommt hier als erstes das Abendlied, das Josef Gabriel Rheinberger (1839-1901) mit knapp 16 Jahren schrieb. Es kommt aber nicht in der Version, die ich lange immer gehört habe (von den Cambridge Singers), sondern als Livemitschnitt eines Sofioter Kammerchors. Und zwar WEIL um Minute 1.00 herum jemand hustet. Studioaufnahmen haben wir satt. Das Bewußtsein, daß hier jemand dem Singen zuhören durfte, hat bewirkt, daß mir diese Einspielung des Abendliedes vor allen andern lieb geworden ist. Also: Enjoy 🙂

Das älteste Musikstück, was ich zu diesem Thema zum Nachhören gefunden habe, stammt von dem Thüringer Komponisten Michael Praetorius (eigentlich Schulteis) aus Creuzburg, der ganz irre Lebensdaten hat. Er wurde nämlich am 15. Februar 1571 geboren (hatte also dieses Jahr 450. Geburtstag) und verstarb 1621 (also heuer zugleich 400. Todestag) und zwar ebenfalls am 15. Februar! Wie wir wissen, herrschte in der Antike die Vorstellung, der perfekte Mensch sterbe am Jahrestag seiner Geburt. Also hören wir in die Komposition dieses Auserwählten unbedingt hinein! Der Text der kleinen Motette lautet:

„Bleib bei uns, Herr, denn es will Abend werden,
laß dein Licht leuchten auch zu unsern Zeiten,
dafür wir deinen Namen wolln loben ewig, Amen.“

Und hier kommt die Musik. Enjoy!

Dann hat sich natürlich auch Johann Sebastian Bach im Rahmen seiner Kantatenzyklen für jeden Sonn- und Feiertag im Jahreskreis dieses Themas annehmen müssen. Er hat eine ganze Kantate daraus gemacht: BWV 6 aus dem sogenannten zweiten Leipziger Kantatenjahrgang, also im Frühjahr 1725. Den Text der Kantate finden Sie hier.

Enjoy!

Der erste Chor bringt (wie auch in anderen Kantaten Bachs) das unveränderte Bibelzitat. Im Choral nach der folgenden Arie wird dann die theologische Botschaft der Kantate auf den Punkt gebracht: Das Licht, das die angebrochene Dunkelheit erhellen soll, ist Gottes Wort, zu dessen Befolgung wir Beständigkeit vom Herrn erflehen. Die Trauer um den Abschied vom auferstandenen Herrn dominiert den ersten Chor, und die Musikwissenschaft schlägt aufgrund von gleicher Tonart (c-moll), Motivverwandtschaft (kleiner absteigender Terz) und Grundstimmung die Brücke zum „Ruhet wohl“, das die Johannespassion beendet. Hören Sie deshalb auch in diesen Chor einmal hinein:

„Man spürt, dass Bach beim Komponieren dieser Kantate [BWV 6] den Schlußchor seiner Johannespassion vielleicht nicht mehr auf dem Schreibpult, aber auf jeden Fall noch im Ohr hatte“, hält John Eliot Gardiner in seinem 2016 bei Hanser erschienenen Buch „Bach“ fest (S. 417). Mehr noch: „Während der Epilog der Passion elegisch und tröstlich ist, schwingt in der Kantate die Traurigkeit über den schmerzlichen Verlust mit. […] Die Grundstimmung ist die des Niedergangs und der Verlassenheit“ (ebd.), wozu in BWV 6 die Besetzung mit der Oboe da caccia beiträgt. Sie dient in der durchsemantisierten Klangwelt Johann Sebastian Bachs dem „Ausdruck von Kummer und Pein“ und kommt zum Einsatz, „wenn es großes Leid in Töne zu fassen gilt“ (S. 419). 

 

Fortsetzung folgt

 

Cornelie Becker-Lamers

 

„Ich habe den lebendigen Gott versucht!“

Vorbild- oder Parallelerzählung? Die ungläubige Salome

Eine Nachfrage meiner Tochter rief mir unlängst eine Textstelle aus der Legenda Aurea des Jacobus de Voragine (1228-1298) in Erinnerung. Jacobus, ab 1292 Erzbischof von Genua, hat mit dieser um die Mitte der 1260er Jahre verfaßten und ab 1470 auch gedruckten Legendensammlung zu Heiligen und den Festen des Kirchenjahres ein Werk hinterlassen, dessen Einfluß auf Volksfrömmigkeit und Brauchtum, aber auch auf Kunst und Heiligenikonographie kaum überschätzt werden kann. In zahlreiche Volkssprachen übersetzt, bildete die Legenda Aurea über Jahrhunderte hinweg eine der wichtigsten Quellen der Heiligenverehrung und war Grundlage von Gebeten und Andachtsformen.

In diesem Buch nun findet sich unter der Überschrift „Geburt Christi“ ein en passant erzähltes Motiv, das durch seine Parallele zur im heutigen Evangelium gehörten Erzählung vom Ungläubigen Thomas (Joh 20,24-29) dennoch Interesse weckt. Es heißt in der Legenda Aurea im Kontext von fünf Beweisen für die Jungfrauengeburt aus Maria:

Als die Zeit nahte, da die heilige Jungfrau gebären sollte, rief Joseph, obwohl er nicht daran zweifelte, daß Gott aus der Jungfrau zur Welt kommen werde, nach der Sitte seines Landes Hebammen herbei, von denen die eine Zebel, die andere Salome hieß. Als Zebel sie nun untersuchte, sah sie, daß sie Jungfrau war, und rief aus, eine Jungfrau habe geboren. Weil aber Salome dies nicht glauben, sondern, wie Zebel, selber nachprüfen wollte, vertrocknete alsbald ihre Hand. Da erschien ihr ein Engel und hieß sie den Knaben berühren, und alsbald war sie wieder geheilt.
(Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, Auswahl und Übersetzung aus dem Lateinischen von Jacques Laager, Zürich: Manesse 1990, S. 435f.)

Jacobus, der spätere Erzbischof von Genua, hat diese Erzählung natürlich nicht selber erfunden. Sie begegnet uns auch im bekannten sogenannten Protevangelium („Vorevangelium“) des Jakobus, das in seiner Entstehung auf die Mitte des 2. Jahrhunderts datiert wird. Dort heißt es im achtzehnten bis zwanzigsten Kapitel:

Und [Josef] fand dort eine Höhle und führte sie [Maria] hinein, ließ sie in der Obhut seiner Söhne und ging hinaus, um eine hebräische Hebamme im Gebiet von Bethlehem zu suchen. Und er fand eine, die gerade auf dem Weg vom Gebirge herab war, und nahm sie mit. […] Josef sprach zur Hebamme: „Maria ist meine Verlobte, aber sie hat vom Heiligen Geist empfangen, nachdem sie im Tempel des Herrn aufgezogen worden ist.“ Und die Hebamme ging mit ihm. Als sie zur Stelle kamen, wo die Höhle war, bedeckte eine dunkle Wolke die Höhle.

Die Hebamme sprach: „Erhoben ist meine Seele, heute, da meine Augen Wunderbares geschaut haben, heute, da Israel das Heil geboren ist.“ In diesem Moment verzog sich die Wolke von der Höhle und es zeigte sich ein großes Licht in der Höhle, so daß es für die Augen nicht zu ertragen war. Kurz darauf verlor sich dieses Licht und das Neugeborene war zu sehen. Es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria. Da schrie die Hebamme auf und sagte: „Wie groß ist der heutige Tag für mich, da ich dieses wunderbare Schauspiel gesehen habe.“

Die Hebamme verließ die Höhle. Da begegnete ihr Salome, und sie sprach zu ihr: „Salome, Salome, ich habe dir ein wunderbares Schauspiel zu erzählen. Eine Jungfrau hat geboren, obwohl das doch ihre Natur nicht zuläßt.“ Salome aber erwiderte: „So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich nicht meinen Finger hineinlege und ihre geschlechtliche Eigenart untersuche, werde ich nicht glauben, daß eine Jungfrau geboren hat.“

Salome ging hinein, ließ sie die entsprechende Stellung einnehmen und untersuchte ihre geschlechtliche Eigenart. Und Salome schrie auf: „Ich habe den lebendigen Gott versucht! Siehe, meine Hand fällt wie von Feuer verzehrt von mir ab.“ In jener Stunde aber, als sie zum Herrn betete, wurde die Hebamme geheilt. Denn siehe, ein Engel des Herrn, stand vor Salome und sagte: „Dein Gebet wurde von Gott, dem Herrn, erhört. Tritt heran und faß das Kind an. Es wird die Rettung für dich sein.“

Sie verhielt sich so, und Salome wurde geheilt, als sie sich vor ihm niederwarf. Daraufhin ging sie aus der Höhle heraus. Siehe, da rief der Engel des Herrn mit (lauter) Stimme: „Salome, Salome, erzähle niemandem, was du Wunderbares gesehen hast, bis der Knabe nach Jerusalem gekommen ist.“
(Ceming/ Werlitz, Die verbotenen Evangelien. Apokryphe Schriften, Wiesbaden: marix 2004, S. 86-88; Auslassung und Hervorhebung im Original) 

Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, Der ungläubige Thomas (1601/02 – Bild: wikimedia commons)

Eine Randglosse der Herausgeber der apokryphen Schriften, aus denen ich zitiert habe, informiert uns darüber, daß andere Textzeugen des Protevangeliums eine noch längere Version der Hebammenerzählung bieten (S. 86). Angesichts der Relevanz eines glücklichen Geburtsvorgangs und des damals daraus resultierenden hohen sozialen Ansehens von Hebammen keine Überraschung.

Mit dem Protevangelium des Jakobus, das die Geschichte aus der Legenda Aurea auch bereits festhält, sind wir zudem so nahe an die Entstehungszeit der Evangelien, die Eingang in den Kanon der Bibeltexte gefunden und behalten haben, herangerückt, daß sich die Frage nach Vorbild- und Parallelerzählung entschieden aufdrängt. Vollzieht sich doch in der Erzählung vom Ungläubigen Thomas im Gegensatz zur Hebammengeschichte der Gottesbeweis an einem für seine Beweiskraft durchaus austauschbaren Körperteil. Wir halten uns jedoch nicht für befugt, hierzu eine belastbare Aussage zu treffen und möchten es bei der Bereitstellung der beiden zitierten Textstellen für heute belassen.

Wie heißt es jedenfalls im Johannesevangelium so schön im Anschluß an die Thomaserzählung? „Noch viele andere Zeichen, die nicht in diesem Buch [dem kanonischen Evangelium] aufgeschrieben sind, hat Jesus vor seinen Jüngern getan.“ (Joh 20,30) Weswegen ja auch die Kirche in ihrer unendlichen Weisheit Schrift und Tradition zu den Grundlagen unserer Glaubenspraxis macht. 😉

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Wobei ich gerne anmerken würde, daß die Festlegung der kanonischen Schriften einen zentralen Teil der natürlich nicht beliebigen Traditionsbildung ausmacht und, so legitim und ggf. auch plausibel Parallelerzählungen  und  Ausschmückungen sind, der jeweilige Rang der beiden Texte doch ganz klar bleibt.
Dennoch, das eine vom anderen her beleuchten kann fruchtbar sein!
Nicht ganz einverstanden bin ich mit dem “austauschbaren Körperteil”. Das könnte m.E. nur in einer arg verkürzten, sozusagen biologistischen, Sicht der Dinge Bestand haben.
Zwar ist richtig, daß Thomas selbst
vor der Begegnung mit dem HErrn noch von mehreren möglichen Wunden spricht, die er berühren möchte, um zu glauben, aber selbstverständlich legt er dann in der konkreten Begegnung die Finger nicht zufällig in die Seiten-Wunde: Hier hat sie schon begonnen, die Zeit der Kirche, die Kirche aber floß aus dieser Wunde! (vgl. Ez 47,1-9; Ps 117,1)

Gereon Lamers

PuLa reloaded: Die Beichthotline

Liebe PuLa-Leserinnen und –Leser! Lassen Sie uns unseren Rückblick auf zehn Jahre PuLa, unser „best of“ (vgl. hier), mit einem der ersten Sketche beginnen, die ich hier publiziert habe. Es ist der Sketch „Die Beichthotline“, in welchem die Figuren noch nicht ihre ganz scharfen Konturen erhalten hatten. Obwohl wir auf verschiedene Sketche hin Emails bekamen, daß aktive Mitglieder anderer Pfarreien die dortigen Verhältnisse durch die literarische und dadurch zugleich detailgetreue wie verallgemeinernde Schilderung unserer Situation wiedererkannten und befreit auflachen konnten, muß die „Beichthotline“ den Nerv besonders gut getroffen haben. Denn sie wurde mehrfach andernorts aufgeführt (vgl. Kommentare). Wir wissen nicht, wo überall. Aber bei unseren Nachfragen, wie die Bitte um eine Aufführungserlaubnis (die wir natürlich jeweils gerne kostenlos erteilten) zustande gekommen und wie man denn auf diesen Sketch aufmerksam geworden sei, erhielten wir zur Antwort, man habe eine Darbietung in einer evangelischen Pfarrei miterlebt und wolle den Sketch nun ebenfalls aufführen.

Die Kollegin von Weihrausch und Gnadenvergiftung hat den Sketch in einer eigenen Rubrik auf ihrem Blog integriert und die kfd ihn in der Nr.1/2015 ihrer Zeitschrift „Die Mitarbeiterin“ publiziert (S.32-35) 

„Die Mitarbeiterin“, 1/2015, S. 32-35 (eigenes Bild)

Als die kfd mir das Honorar hierfür überwies, war ich froh, daß ich für PuLa ehrenamtlich arbeite. Denn eigentlich hätten wir uns mich gar nicht leisten können! 🙂 So aber haben wir uns in den Sketchen so einiges geleistet – und die Sketche haben einiges geleistet und bewirkt.

Genug der Vorrede! Freuen Sie sich auf

 

Die Beichthotline

Ein Sketch für zwei Personen

Das Pfarrbüro. Der Schreibtisch liegt voller Papier. Aktenordner stehen herum. Irgendwo auf dem Tisch liegt ein Gotteslob. Corinna sitzt vor einem Anrufbeantworter und spricht sehr langsam, gleichbleibend deutlich, hoch und tonlos wie eine Computerstimme:

CORINNA: Guten Tag und herzlich willkommen! Sie sind mit der Beichthotline der katholischen Pfarrgemeinde „Maria hilf!“ in Wundersdorf/Oderbruch verbunden. Bei Alkoholmissbrauch …

RUDI (stürmt herein): Grüß dich Corinna! Na – wie geht’s? Er stellt seine Tasche ab.

CORINNA (ist aufgefahren und legt wie im Schreck eine Hand auf die Brust): Guter Gott, Rudi, hast du mich erschreckt! Sag mal – kannst du nicht ein bisschen leiser hier reinstürmen?

RUDI: Entschuldigung. (Er setzt sich grinsend mit an den Tisch, weil er weiß, dass Corinna ihm nicht wirklich böse ist.)

CORINNA: Außerdem störst du mich gerade! (Sie spult den AB zurück.)

RUDI: Ou! Was machst du denn schönes?

CORINNA: Hm – was schönes ist es eigentlich nicht, aber notwendig.

RUDI: Und?

CORINNA: Das musst du aber für dich behalten!

RUDI: Ja klar!

CORINNA: Ehrenwort?!

RUDI: Mein Gott, das muß ja was ganz Geheimes sein! Ja, Ehrenwort. Ich kann ja auch eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben…

CORINNA: Mach keine blöden Witze!

RUDI: Also jetzt schieß los.

CORINNA: Ich richte eine Beichthotline ein.

RUDI: Eine – was?

CORINNA: Eine Beichthotline. (ganz stolz) Habe ich mir selbst ausgedacht!

RUDI: Bist du von allen guten Geistern verlassen? So was kannst du doch nicht machen! – Eine Beichthotline! Was soll das überhaupt sein?

CORINNA (ein klein wenig beleidigt): Das erklärt sich doch von selbst. Sieh mal – seit sieben Jahren teilen wir uns unseren Pfarrer mit neun Gemeinden im Umkreis, die alle keinen eigenen Pfarrer mehr haben. Da kommt Herr Kneif natürlich nicht rum – das merkt man doch an allen Ecken und Enden!

RUDI: Ja aber – ja und? Wir haben doch gesagt, dann müssen wir eben ehrenamtlich  noch mehr Aufgaben übernehmen, die ein Pfarrer so abzudecken hat. Das klappt doch auch soweit ganz gut…

CORINNA: Ja, soweit ja. Die Beichte darf aber kein Laie abnehmen. (Sie macht eine kurze Kunstpause). Das dürfen nur Geistliche. (Pause) Sonst klappt’s nicht – mit der Lossprechung!

CORINNA wendet sich wieder dem Anrufbeantworter zu und fängt mit ihrer nachgemachten Computerstimme von vorne an:

CORINNA: Guten Tag und herzlich willkommen! Sie sind mit der Beichthotline der katholischen Pfarrgemeinde „Maria hilf!“ in Wundersdorf/ Oderbruch verbunden. Bei Alkoholmissbrauch drücken Sie bitte die 1; bei Nötigung und Drängelei im Straßenverkehr drücken Sie bitte die 2; bei Eigentumsdelikten drücken Sie bitte die 3 …

RUDI: Um Himmels Willen, Corinna! Das hört sich ja fürchterlich an! Nötigung! Eigentumsdelikte! Für wen um alles in der Welt soll denn diese Hotline eingerichtet werden? Wen in unserer Gemeinde betrifft das denn?

CORINNA: Ooooch … also, bei Alkoholmissbrauch brauchen wir doch gar nicht so weit zu gehen … Lieber Rudi! Ich habe nach Kriminalstatistik die sieben häufigsten Delikte herausgesucht. Es ist alles objektiv belegbar! Wir decken die ganze Palette ab und keiner kann sich beschweren, seine Sünde käme nicht vor. Der soll mir dann erst mal sagen, was das denn bitte schön wäre! – Und jetzt stör mich nicht immer. Ich konnte gerade noch rechtzeitig die Pausentaste drücken. Um ein Haar hätte ich wieder ganz von vorne anfangen müssen. (Sie lässt die Taste los und spricht weiter mit Computerstimme):  … bei Körperverletzung drücken Sie bitte die 4; bei Mobbing drücken Sie bitte die 5; bei Sachbeschädigung drücken Sie bitte die 6; bei Ehebruch drücken Sie bitte die 7 …

RUDI (hat fassungslos daneben gesessen und zugehört): Corinna! Wo soll das hin? Wie soll…

CORINNA (ärgerlich): Du sollst mich nicht immer stören! (Sie bespricht weiter den AB, mit Computerstimme): Wenn Sie uns eine Nachricht hinterlassen wollen, drücken Sie bitte die 8; wenn Sie einen Service-Mitarbeiter sprechen möchten, drücken Sie bitte die 9.

CORINNA (lehnt sich zurück, erkennbar guter Dinge): So! Fertig! (nachdenklicher): Jetzt brauchen wir nur noch ein schönes langes Stück Musik, damit die Leute auch zuverlässig irgendwann auflegen.

RUDI (ruft aus): Auflegen? Da soll dann nicht mal jemand sitzen?

CORINNA (ehrlich erstaunt): Rudi! Wer soll’s denn machen? Wir haben doch keine Leute! (mit einem Blick zur Uhr) Ich muss gleich schon wieder weg.

RUDI: Aber wir könnten doch einige Leute erst mal ansprechen … Da fände sich bestimmt der eine oder die andere…

CORINNA (unterbricht ihn): … die dann womöglich was erfahren, was ich nicht mitkriege? Kommt nicht in Frage!

RUDI (stammelt, sucht nach Worten): Ja – aber du – du kannst doch nicht ankündigen, man könne mit jemandem sprechen – und dann hebt keiner ab…!

CORINNA (etwas mitleidig): Rudi! In was für einer Welt lebst du eigentlich? Das machen alle Unternehmen überall auf der Welt doch genau so! Oder hast du schon mal eine hotline angerufen, wo dann wirklich jemand abgehoben hat? Also bei der Deutschen Bahn bestimmt nicht!

RUDI: Du meinst, die hotlines sind nur zum Englischlernen da?

CORINNA: Genau – please, hold the line! (frisch, als brächte es sie auf eine Idee) You will be connected as soon as possible. Tja, und possible ist bei uns eben: nie. So ist das nun mal. Das sind die modernen Zeiten! (salbungsvoll) Mir gefällt es doch auch nicht! Aber ich will mir auch nicht ständig anhören, es gäbe keine Termine mehr für Beichtgespräche. Jetzt können wir immer sagen: („sehr freundlich“) ‚Sie können uns doch jederzeit anrufen.’ Das hat doch was!

RUDI: Oh Gott! Naja – aber sag mal – ist das denn mit irgendjemandem abgesprochen? Ich meine – so was kann man doch nicht einfach…

CORINNA: Papperlapapp! Abgesprochen! Dass ich nicht lache. Mit dem Pfarrer ist es abgesprochen, das reicht.

RUDI: Ach so! Der Pfarrer hört die Kiste regelmäßig ab?

CORINNA (zögerlich): Ja – das konnte man zumindest so verstehen, ja! (energisch) Komm – es wird schon keiner was draufsprechen, so unpersönlich wie ich das gehalten habe! Deswegen sollte ich ja so abgehackt sprechen, dass es wie ein Computer klingt. Hat Herr Kneif mir extra aufgetragen. Damit man ein bisschen abgeschreckt wird.

RUDI: Na, weißt du! …

CORINNA: Herr Kneif hat jedenfalls gesagt, er wolle so spätestens alle zwei Wochen den Anrufbeantworter abhören und die Leute zurückrufen, falls sich die Sache nicht von selbst erledigt hat.

RUDI: Wie – von selbst erledigt?

CORINNA: Na, wenn jemand einen Diebstahl beichten wollte und ist in der Zwischenzeit geschnappt worden, dann steht das doch in der Zeitung. Und dann kann der Pfarrer gleich in die Vollzugsanstalt fahren, hat er ein Gespräch gespart!

RUDI: Ach so!

CORINNA: Tjaha! Gewusst, wie! Aber jetzt lass mich mal bitte weiter arbeiten, ich muss gleich los. (Sie beginnt, verstreut liegende Papiere zu ordnen, abzuheften u. dergl.)

RUDI (nach einer Pause, in der er ihr emotionslos zugesehen hat): Aber sag mal, die Gremien…

CORINNA: Rudi! Schluß jetzt! Wenn das Ding erst mal läuft, werden die Gremien dem schon zustimmen! Du kennst mich doch! Wichtig ist jetzt zunächst mal, dass es im Bistum keiner mitkriegt. Ich weiß nicht genau, wie die damit umgehen würden…

RUDI (fassungslos, schüttelt den Kopf, vor sich hin): … bei Ehebruch drücken Sie bitte die 7 … ich glaub’s einfach nicht!

Das Telefon klingelt.

CORINNA (hebt ab): Katholisches Pfarramt Wundersdorf im Ehebr… – äh! im Oderbruch, was kann ich für Sie tun? (Corinnas Miene verzieht sich entsetzt. Sie hält die Hörermuschel zu und flüstert): Das Bistum! (lacht ein bisschen) – Äh! Jahaha! Guten Tag! Ja! Ja! Ebenso! (Pause) Was wir so machen? Oooch, wir – äh – arbeiten! (Pause) Was? (ratlos) Äh – wir machen … (beschwingt) wir machen! (Sie fuchtelt mit dem freien rechten Arm in Rudis Richtung, dass er ihr helfen soll.)

RUDI (flüstert): Beichtvorbereitung!

CORINNA (erleichtert): … die Beichtvorbereitung! Wir machen die Beichtvorbereitung! (Sie macht die „Daumen hoch“-Geste in Richtung Rudi)  – Ja! Besprechung, genau! Wir haben gerade (sie tätschelt den AB vor sich) alles besprochen. (Pause) Jo – für Kinder – auch, ja! Aber das ist ja immer auch für die Eltern mit! (etwas leiser, wie für sich) Die müssen ja die Telefonrechnung bezahlen! (laut, in den Hörer) Äh! Ich meine, die laden wir ja immer mit ein! (Pause. Daraufhin erschrocken): Steht vor der Tür? Wer steht vor der Tür? (Pause, erleichtert): Ach, die Erstkommunion steht vor der Tür. Ja, sehen Sie, eben! (Pause) Genau! Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen, so ist es! (Pause) Ja! Vielen Dank, Ihnen auch! Jaha! Auf wiederhören! (Sie knallt den Hörer auf die Gabel und mimt einen Anfall.) Puh! Das ist ja gerade noch mal gut gegangen!

RUDI: Nichts gemerkt?

CORINNA: Nichts gemerkt! (hat wieder Oberwasser) Natürlich nicht! – So, über die Musik haben wir noch nicht entschieden. Was nehmen wir als Endlosschleife? „Don’t worry, be happy“? Das läuft bei meinem Steuerberater.

RUDI: Corinna!

CORINNA: Ja, die Frage ist doch einfach: Welches Image wollen wir uns geben? Sind wir eine moderne Gemeinde? Dann nehmen wir Bobby McFerrin. Oder wollen wir zeigen: Wir sind traditionsverbunden, dann nehmen wir – dings – hier. Von dem Dings (sie blättert im Gotteslob und schlägt es bei einem Lesezeichen auf) da, Nummer 295, hat meine Mutter mir rausgesucht: „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Das ist dasselbe wie „Don’t worry, be happy“, nur komplizierter formuliert.

RUDI: Wie bitte? Das kann doch gar nicht sein!

CORINNA: Na klar! “Was helfen uns die schweren Sorgen“ … hier: „Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit …“ (triumphierend) Das ist genau das!

RUDI: Sag mal, willst du dir das ganze nicht noch mal überlegen? (hat eine Idee, wie er sie abbringen könnte): Musik – kostet das denn nicht am Ende was?

CORINNA: Ein sehr guter Einwand, Rudi! (macht eine wegwischende Handbewegung) Hab ich aber natürlich alles schon bedacht! Die Kostenfrage spricht eindeutig für das ältere Lied. Unser Kirchenchor würde nämlich alle Strophen einspielen, ich hab schon mit dem guten Herrn Wagner gesprochen. Er sagt, wenn sie‘s eine Terz tiefer nehmen dürfen, bekämen sie das schon hin!

RUDI (vergräbt sein Gesicht in den Händen): Auch das noch! (wieder zu ihr) Aber für deine Zwecke natürlich ideal … Corinna … ich weiß nicht … irgendwie gefällt mir die ganze Geschichte nicht…

CORINNA: Rudi! Wem das Wasser bis zum Hals steht, der darf den Kopf nicht hängen lassen! – So, ich muß jetzt los, Gerichtstermin wegen unserer säumigen Mieter in der Zetkinstraße. (Sie eilt zur Tür) Tschüssi, frohes Schaffen! (Sie ruft über die Schulter zurück) Und stell den Anrufbeantworter an, wenn Du gehst!

Die Tür fällt ins Schloss. Rudi bleibt ratlos zurück, nimmt ein Papier auf, lässt es wieder sinken und schaut kopfschüttelnd ins Publikum. 

 

ENDE

 

Cornelie Becker-Lamers

 

Ja, so geht’s zu in Wundersdorf!

Bloß gut, daß bei uns in Weimar das Verhältnis von Haupt- und Ehrenamt so ausgewogen ist, daß Grenzüberschreitungen zwischen den beiden Bereichen ja geradezu ausgeschlossen sind…

 

Soweit der Originaltext vom 1. Juni 2011 samt des obligatorischen “Bloß gut…”, mit dem die Wundersdorfer Zustände in den Kontext gerückt wurden. Sie können den Sketch hier nachlesen, samt der Kommentare.
Ganz konkreter Auslöser der Idee zu diesem Sketch war ein Anruf bei unserem damaligen Pfarrer. Statt der bis dahin üblichen personalisierten Ansage auf dem AB empfing mich eine Computerstimme, die lediglich die Telefonnummer durchgab, die ich soeben angerufen hatte. Man wußte also nicht einmal, ob man wirklich richtig gelandet war. Möchte man da eine Nachricht hinterlassen? – Und da eine einzelne ehrenamtliche Mitarbeiterin über einen Generalschlüssel für die pfarrlichen Gebäude verfügte, erfand ich diesen Sketch für die im weiteren Verlauf der Serie immer deutlicher konturierte Figur der Corinna Bischof.

CBL

Fürchtet Euch nicht!

Für alle, die es zu Weihnachten nicht wirklich verstanden haben, kommt eine der zentralen Botschaften des Christentums in jedem Jahr zu Ostern noch einmal: „Fürchtet Euch nicht!“ beruhigt ein Engel die Hirten auf dem Feld (Lk 2,10) und ein Engel des Herrn sagt es den Frauen, die am ersten Tag der Woche, am Morgen nach dem Sabbat zum Grab kommen, um Jesus zu salben und eine leere Grabstätte vorfinden (Mt 28,5): „Fürchtet euch nicht!“

In jedem Jahr sprüht oder schreibt diesen Satz irgendjemand auf die Straße. Auch an diesem Ostermontagmorgen haben wir ihn in unserer Straße, die direkt zur Kirche führt, an mehreren Stellen auf dem Bürgersteig gefunden. Direkt vor der frisch geplättelte Zufahrt zum Pfarrgarten und wiederum auch an anderen Stellen stand zudem „Jesus ist auferstanden!“

Ostern 2021 in der Weimarer Paul-Schneider-Straße und direkt vor der Toreinfahrt zum Pfarrgarten (eigene Bilder)

Das ist freilich gerade zur Zeit leichter gesagt als getan. Ein Zufallsbefund bei einem Gang zur Musikhochschule ohne Umweg oder eine Suche nach Veränderungen ergab heute Nachmittag, daß der Bekleidungsladen für Jugendliche, Pimkie (bekanntlich eine Ladenkette), seine Weimarer Filiale am Theaterplatz geschlossen hat. In der Neugasse ist der Kunsthandwerksverkauf mit den Erzgebirgsfiguren eingegangen, statt S.Oliver versucht sich in der Schillerstraße jetzt hogl und Gerry Weber hat zwar ein Plakat mit der Aufschrift „New Collection“ hängen, es stehen aber keine eingekleideten Schaufensterpuppen dabei. Ein Reiseunternehmen im Goethekaufhaus informiert per Aushang über seine Schließung aufgrund der Öffnungsverbote zum „Coronaschutz“  und das erste Haus am Platz, Hotel Elephant am Markt, bei dem es ja eigentlich darauf ankommt, einmal im Café mit den historischen Van-de-Velde-Stühlen zu sitzen, versucht sich als Lieferservice.

Fürchtet Euch nicht?

Ja, fürchtet Euch nicht. Zumindest wir anderen, deren ökonomische Existenz gerade nicht akut bedroht ist: Fürchten wir uns nicht, selber zu lesen, selber zu hören, selber zu denken und zu sagen, was das alles für ein Irrsinn ist (angesichts beispielsweise einer deutschlandweiten Untersterblichkeit zwischen 9 und 14% im dritten Monat in Folge …).

Oder, wie Anthony Hopkins unlängst so schön auf Instagram zitiert wurde: „Keiner kommt hier lebend raus. Also hört auf, Euch wie Andenken zu behandeln” 

Fürchten wir uns nicht!

PuLa wünscht allen Leserinnen und Lesern mehr als nur körperliche Gesundheit – und eine gesegnete Osterzeit!

 

Cornelie Becker-Lamers

Sieben Wunden Christi am Kreuz

Die Pietà in St. Pauli Bekehrung Bad Aussee. Ein ‚PuLa unterwegs‘

Die Pietà ist eine Mariendarstellung. Der Begriff bedeutet ja Mitleid. Die Skulpturen stellen daher nicht das Leiden Christi in den Vordergrund, sondern das Mitleiden der Miterlöserin Maria. Sie zeigen die Schmerzen der Gottesmutter, die nach der Kreuzabnahme den Leichnam ihres geliebten Sohnes auf den Schoß nimmt.

Vielleicht ist mir deswegen erst im vergangenen Sommer in einer Pfarrkirche, die wir eigentlich seit 15 Jahren aus unseren Urlauben kennen, erstmals wirklich die Pietà aufgefallen, und zwar unter dem Aspekt der besonderen Darstellung Jesu. Es ist die Pietà in St. Pauli Bekehrung in Bad Aussee.

Die Pietà in St. Pauli Bekehrung Bad Aussee/ Steiermark (2. H. 19.Jh./ Anfang 20.Jh; Künstler unbekannt; eigenes Bild)

Die Figurengruppe steht im Eingangsbereich der Kirche. Sie ist oberhalb des großen Weihwasserbeckens aufgebaut und fällt eigentlich ins Auge, sooft man die Kirche betritt. All die Jahre über aber habe ich offenbar immer nur die Mariendarstellung abgespeichert, die im Einklang mit der Prophezeiung des greisen Simeon (Lk 2,35) eine der üblichen Ikonographien aufweist: Ein Schwert geht durch ihr Herz als Sitz der Seele. 

Im letzten Sommer erst bemerkte ich, daß Christus in dieser Figurengruppe eine Besonderheit aufweist, die mir so noch nie aufgefallen und auch in den nachträglichen Recherchen nicht begegnet ist: Christus hat hier statt der üblichen fünf – sieben Wunden. Denn zu den Wunden in Händen, Füßen und rechter Seite hat der Künstler in einer beispiellosen Brutalität die im dreimaligen Fallen unter der Last des Kreuzes aufgeschundenen Knie des Heilands dargestellt. Obwohl ich Bildbände gewälzt und mich mit einem ausgewiesenen Fachmann in christlicher Ikonographie unterhalten habe, bin ich auf keine vergleichbare Ausarbeitung dieses Bildmotivs gestoßen. Während die Stirn Christi unversehrt erscheint, ist die Haut an den Knien nicht nur aufgeplatzt, sondern einfach weg. In riesigen Wunden erscheint an beiden Knien das rohe rote Fleisch.

Diese Darstellung ist vermutlich deshalb unüblich, weil bei der Ikonographie rund um die Kreuzigung auf Bibeltreue geachtet wurde. Durch das Hinzufügen zusätzlicher grausamer Details umso mehr Mitleid zu erregen, sollte vermieden werden. Und das Fallen unter dem Kreuz ist nicht in den Evangelien belegt. Wie die Begegnung Jesu mit seiner Mutter und mit Veronika ist das dreimalige Fallen erst ein Element der Kreuzwegandachten. Kanonisch ist, daß Pilatus sich die Hände in der sprichwörtlich gewordenen Unschuld wäscht (Mt 27,24), daß Christus mit Dornen gekrönt (Mt 27,29 und Mk 15,17) und gegeißelt (Mt 27,26 und Mk 15,15) wurde und daher schon auf dem Weg nach Golgotha auch diese Wunden trug. Die weinenden Frauen erwähnt nur das ‚Frauenevangelium des Lukas (Lk 23,27f.). Simon von Zyrene wird mit der Funktion, das Kreuz nicht nur tragen zu helfen, sondern gänzlich zu übernehmen, in allen drei synoptischen Evangelien genannt (Mt 27,32; Mk 15, 21 und Lk 23,26). Ein Fallen explizit unter der Last des Kreuzes ist angesichts dieser Erzählungen daher ausschließlich nach dem Johannesevangelium denkbar, das Simon von Zyrene nicht erwähnt und nach welchem Jesus allein sein Kreuz zur Schädelstätte trägt (Joh 19,17).

Kreuzwegstation VII: Jesus fällt zum zweiten Mal; Kreuzweg in Herz Jesu Weimar (eigenes Bild)

Vereinzelt bedenken übrigens Pestkreuze die kaputten Knie Christi. Dies könnte aber auch dem Kontext der Epidemie und ihrer körperlichen Sichtbarkeit in Wunden und Beulen geschuldet zu sein: Das Hervortreten der Pest am Körper der Erkrankten drängte einige Bildhauer, auch die Körperlichkeit des geschundenen Leibes Christi am Kreuz stärker in den Vordergrund zu rücken.

Die sieben Wunden Christi in der Ausseer Pietà fielen mir auch deshalb jetzt plötzlich auf, weil vor gut zwei Jahren im Seniorenkreis unserer Pfarrei „Die Symbolzahl 7“ zur Sprache kam. Die Leiterin des Kreises, Frau Mende, hatte eine Fülle von Belegen und Beispielen aus der Bibel, antikem Wissen, Glaubenspraxis, Geschichte und Geographie zusammengetragen, von den Schöpfungstagen und den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz über die Sakramente, die Tugenden und Todsünden, die Freuden und die Schmerzen Mariens, die sieben Planeten der antiken Welt, die sieben Hügel Roms bis hin zu den Farben des Regenbogens und der Siebenzahl im Märchen. An ihrem Wissen ließ sie mich wie immer teilhaben. Die sieben Wunden des Kreuzweges Christi, wie wir ihn beten, könnte man mit der Ausseer Pietà nun noch ergänzen.

PuLa wünscht allen Leserinnen und Leser ein gesegnetes Osterfest in offenen Kirchen!

Cornelie Becker-Lamers

„Bey stiller Nacht“ (2/2)

Friedrich Spees „Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten“ und Brahms‘ romantische Klage

Alter Wein in neue Schläuche

Seit ich den Hintergrund des zum romantischen Klagelied umgedichteten Textes kennengelernt hatte, den Brahms in einen so schönen Chorsatz gegossen hat, trug ich mich mit dem Gedanken, den alten Text einmal der neuen Melodie zu unterlegen. Dieses Jahr habe ich es gemacht und wir haben en famille („Corona“ …) ein bißchen probiert. Spees Gedicht hat 15 Strophen und je zwei passen in eine Melodiestrophe von Brahms. Beim Anpassen des Textes muß man daher entscheiden, welche Strophe man für am ehesten entbehrlich hält. In Frage kommen eigentlich nur die zwölfte oder die dreizehnte. Ich habe mich für die zwölfte entschieden, in der einige ‚arma Christi‘ aufgezählt werden, denn in Strophe 13 beklagt Christus erneut seine völlige Verlassenheit sogar von Gott und das fand ich gewichtiger. Wie es der Zufall will, stellt die Silbe, die auf den Spitzenton des Brahms’schen Chorsatzes fällt, tatsächlich meist einen inhaltlichen Höhepunkt der Textzeile dar. Das hielt ich für ein gutes Zeichen und fühlte mich in meinem Tun unterstützt.

Das wie gesagt stark dialogisch angelegte Lied beginnt mit der Eröffnung durch einen Erzähler, der nachts eine Stimme hört, ihr zuhört und schaut, zu wem sie gehört: Einem wohlerzogenen jungen Mann, der (Spitzenton:) allein, voller Angst und halbtot am Boden liegt. Bald wird enthüllt, daß es Christus selber ist, der sich voller Angst und totenbleich hierher zurückgezogen hat.

Dann beginnt die direkte Rede Jesu, der seinen Vater um das ‚Transeat a me calix iste‘ bittet. Gottvater antwortet, woraufhin wieder Christus spricht und seine große Angst schildert (Spitzenton zweimal in Folge auf „muß“). Jesus klagt in Gedanken seiner Mutter sein Leid (Spitzenton auf „Du“ bzw. auf dem Namen „Maria“).

In den beiden letzten Strophen von Friedrich Spee ist unklar, wer das lyrische Ich ist. Es könnte weiterhin Christus sein – oder man entscheidet sich für die Lesart als Rahmenerzählung, eine Form, die im Barock sehr üblich ist. Dieses Verständnis ist zudem durch das romantische Klagelied bereits eingeübt, da Brahms‘ Lied ja nur einen Erzähler und keinen Dialog mehr kennt. Rahmenerzählung hieße dann, das lyrische Ich wäre auch am Schluß des Spee-Textes wieder der Erzähler der Anfangsstrophen. Er hat Christus zugehört, leidet nun mit ihm und spürt das Mitleiden der ganzen Schöpfung. Bei Alex Stock heißt es sehr schön: „In acht nehmend, trauert der, der das Lied dichtet und nachsingt, mit dem, dessen Verlassenheit er zur Sprache bringt“ (S. 214).

 

Volkslied oder Komposition

Bis hinein in Doktorarbeiten der 60er Jahre blieb in der Forschungsliteratur unklar, wie es sich mit der Urheberschaft von Brahms‘ „In stiller Nacht“ verhalte. Ja – bis heute wird auf Notenausgaben zum Teil explizit darauf verwiesen, trotz der Bezeichnung „Volkslied“ handele es sich um eine freie Komposition von Brahms. Sie können sich meine Verblüffung vorstellen, als ich das Lied im „Zupfgeigenhansl“ entdeckte, wo unter der Überschrift „Am Abend“ exakt Melodie und Text des Brahms‘schen Chorsatzes enthalten ist – allerdings mit der Angabe: „Nach Friedrich von Spee“ und „aus Döbeln in Sachsen“.

„Aus Döbeln in Sachsen“: „In stiller Nacht“ als Volkslied verbreitet über das Liederbuch der Wandervogelbewegung, den Zupfgeigenhansl (fotografiert aus dem Nachdruck 1984 der Ausgabe Leipzig 1929)

George Bozarth stellt allerdings in einem Artikel der Zeitschrift „Die Musikforschung“ von 1983 die Sache klar: Brahms hat sich mit Volksliedsammlungen u.a. des Verlegers und Musikalienhändlers Friedrich Wilhelm Arnold (1810-1864) beschäftigt. Bozarth schreibt: „Auf den Arnold-Doppelblättern ist die gesamte Melodie mit dem Text der ersten Strophe von „In stiller Nacht“ unter der Titelüberschrift „Todtenklage“ verzeichnet. Es können also kaum Zweifel darüber bestehen, daß Brahms von diesem Lied und seinem geistlichen Vorläufer „Miserere mei, Deus“ durch Arnold erfahren hat, aus dessen Sammlung er auch die übrigen Volkslieder auf diesen Manuskriptblättern übernommen hat.“ (S. 187)

Ich bin, auch bedingt durch die seit langem anhaltenden Schließungen der Bibliotheken, mit den Nachforschungen zu diesem Lied und seinen Quellen noch nicht zum Ende gekommen. Das Brahms-Institut der Musikhochschule Lübeck weiß schon mal nicht Bescheid, da Brahms 80% seines Nachlasses bei seinem Tod 1897 der Gesellschaft der Musikfreunde Wien vermacht hat. In deren Archiv müßten sich die Nachfragen daher fortsetzen, wollte man den Ursprüngen von Text und Musik weiter auf die Spur kommen.

 

Stichpunkte zu einem textlichen Vorläufer

Ein inhaltliches Vorbild des Textes von Friedrich Spee könnte allerdings meine Lektüre des Zupfgeigenhansl zutage gefördert haben. Wenige Seiten vor der „Stillen Nacht“ findet sich dort nämlich ein 1619 (Sie erinnern sich: Spees Gedicht war um 1630 entstanden und 1649 erstmals publiziert) ebenfalls in einem Kölner Gesangbuch veröffentlichtes Lied, welches das Mitleiden des Kosmos bei der Passion mit z.T. ganz ähnlichen Worten beschreibt: „Da Jesus in den Garten ging“.

„die Vögel ließen ihr Singen sein“; Geistliches Lied, Köln 1619 (Zupfgeigenhansl Nachdruck der Ausgabe 1929, S. 88, eigenes Bild)

Dieses geistliche Lied stellt das Mitleiden der Natur nicht nur an den Schluß, sondern auch gleich an den Anfang. In der ersten Strophe schon „trauert alles, was da was, da trauert Laub und grünes Gras.“ Noch näher am Text Spees ist Strophe 7, als auf Weisung Mariens sich die Bäume biegen, die Felsen bersten, die Sonne erbleicht und die Vögel zu singen aufhören:

Nun bieg dich, Baum, nun bieg dich, Ast!
Mein Kind hat weder Ruh noch Rast,
nun bieg dich, Laub und grünes Gras,
laßt euch zu Herzen gehen das!“

Die hohen Bäum, die bogen sich,
die harten Fels zerkloben sich,
die Sonn verlor ihrn klaren Schein,
die Vögel ließen ihr Singen sein.

(All das selbstverständlich im guten Einklang mit dem biblischen Bericht von der symbolischen oder wundersamen Sonnenfinsternis [Pascha, Christi Tod, ist ja zu Vollmond und für eine Sonnenfinsternis braucht es Neumond – und sie kann nicht drei Stunden andauern]. In meiner Bibelübersetzung steht tatsächlich genau „Die Sonne verlor ihren Schein“ [Lk 23, 45] Und es steht im Einklang mit dem Bericht vom Erdbeben und Bersten der Felsen [Mt 27, 51]).

 

Wirkungsgeschichte

Natürlich gehört auch zu dieser Beschäftigung mit einem Lied wieder eine persönliche Geschichte. Und natürlich hängt sie wieder mit meinem Vater zusammen. Meine Eltern besuchten mich in Erfurt und ich hatte zufällig die CD mit Brahmsliedern laufen, in der Fassung für Sologesang und Klavier, interpretiert von Brigitte Fassbaender. Als „In stiller Nacht“ begann, horchte mein Vater auf und trat näher an die Lautsprecher heran. Als das Lied zu Ende war, sagte er: „Ich habe mein Leben lang nach diesem Lied gesucht und wußte nicht, von wem es ist.“ Er hatte es als Kind einmal vom Schulchor singen hören, auf dem Schulhof, bei einem Appell, nachdem – wie immer am letzten Schultag vor den Ferien – die Namen der Ehemaligen des Gymnasiums verlesen wurden, die im vergangenen Trimester im Krieg gefallen waren. 

Carl Bloch, Christus in Gethsemane (1837) Kapelle auf Schloß Frederiksborg Kopenhagen (Quelle Wikimedia commons)

Cornelie Becker-Lamers

 

„Bey stiller Nacht“ (1/2)

Friedrich Spees „Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten“ und Brahms‘ romantische Klage

„In stiller Nacht“ heißt ein wunderschönes Klagelied, das seine verhältnismäßig hohe Popularität heutzutage vermutlich dem Chorsatz von Johannes Brahms verdankt. Hören Sie es hier einmal (wieder) in einer Interpretation des RIAS Kammerchors:

Wenn Sie bis zu Ende geschaut haben, wird Ihnen ab Minute 2:43 das Schlußbild von Carl Heinrich Bloch aufgefallen sein. Es illustriert die nur bei Lukas (Lk 22,43) überlieferte Tröstung, die Jesus im Garten Gethsemane durch einen Engel erfährt. Wie kommt solch ein Bild an den Schluß dieses inhaltlich doch so unbestimmten romantischen Klageliedes?

Das Volkslied, das Brahms‘ kleinem Meisterwerk zugrunde liegt, hat textlich seinen Ursprung in einem Gedicht des Jesuiten Friedrich Spee von Langenfeld (1591-1635), das sehr konkret den Klagenden wie den Grund seiner Klage nennt. Es ist der „Trawrgesang von der Noth Christi am Oelberg in dem Garten“, den Spee um 1630 geschrieben hat und der in seiner „Trutz-Nachtigal 1649 (posthum) in Köln erstmal im Druck erschien:

Bey stiller nacht/ zur ersten wacht
Ein stimm sich gund zu klagen.
Ich nam in acht/ waß die doch sagt;
That hin mit augen schlagen.

Ein junges blut/ von sitten gut
Alleinig ohn geferdten/
In großer noth/ fast halber todt
Im Garten lag auff Erden.

Es wahr der liebe Gottes-Sohn
Sein haupt er hat in armen.
Viel weiß- vnd bleicher dan der Mon
Eim stein es möcht erbarmen.

Ach Vatter/ liebster Vatter mein
Vnd muß den Kelch ich trincken?
Vnd mags dan ja nit anders sein?
Mein Seel nit laß versincken.

Ach liebes kind/ trinck auß geschwind;
Dirs laß in trewen sagen:
Sey wol gesinnt/ bald vberwind/
Den handel mustu wagen.

Ach Vatter mein/ vnd kans nit sein?
Vnd muß ichs je dan wagen?
Wil trincken rein/ den Kelch allein/
Kan dirs ja nit versagen.

Doch sinn/ vnd muth erschrecken thut/
Sol ich mein leben lassen?
O bitter Tod! mein angst/ vnd noth
Ist vber alle massen.

Maria zart/ Jungfräwlich art/
Soltu mein schmertzen wissen;
Mein leiden hart zu dieser fahrt/
Dein hertz wär schon gerissen.

Ach mutter mein/ bin ja kein stein;
Das hertz mir dörfft zerspringen:
Sehr große pein/ muß nehmen ein/
Mit todt/ vnd marter ringen.

Adé/ adé zu guter nacht
Maria mutter mildte!
Ist niemand der dan mit mir wacht/
In dieser wüsten wilde?

Ein Creutz mir für den augen schwebt/
O wee der pein/ vnd schmertzen!
Dran soll ich morgen wern erhebt/
Daß greiffet mir zum hertzen.

Viel Ruthen/ Geissel/ Scorpion
In meinen ohren sausen:
Auch kombt mir vor ein dörnen Cron;
O Gott/ wem wolt nit grausen!

Zu Gott ich hab geruffen zwar
Auß tiefen todtes banden:
Dennoch ich bleib verlassen gar/
Ist hilff noch trost vorhanden.

Der schöne Mon/ wil vndergohn/
Für leyd nit mehr mag scheinen.
Die sternen lan jhr glitzen stahn/
Mit mir sie wollen weinen.

Kein vogel-sang/ noch frewden-klang
Man höret in den Lufften/
Die wilden thier/ trawrn auch mit mir/
In steinen/ vnd in klufften. (Quelle)

Sie werden die Eingangsverse und die beiden Schlußstrophen aus der Brahmsvertonung wiedererkannt haben. Ich stieß auf den Zusammenhang dieser Texte in dem hier schon häufiger erwähnten Sammelband „Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder“. Hierin hat Alex Stock einen neun Seiten langen Beitrag verfaßt (S. 207-215), in dem er den alten Text und die ursprüngliche Melodie, Quellen und Parallelstellen des „Trawrgesangs“ benennt, aber auch eine Interpretation und die Wirkungsgeschichte des Liedes anreißt. Zur Motivation des Dichters vermutet Stock aufgrund der stark dialogischen Anlage des Textes den Katechismusunterricht für Kinder, der damals mit szenischen Darstellungen angereichert zu werden pflegte (S. 210). Im mündlichen Austausch mit einem anderen theologisch wie kunsthistorisch ausgewiesenen Fachmann erfuhr ich von der weiten Verbreitung von Ölbergandachten, wie sie in der Zeit der großen Volksfrömmigkeit um 1500 alldonnerstäglich nach der Marienvesper vor eigens hierfür ausgestatteten Altären oder Figurengruppen abgehalten wurden. Mein Gesprächspartner vermutete daher den Einfluß dieser barocken Andachten auf das Werk Friedrich Spees.

Woher auch immer der Anstoß zur Dichtung kam – das Lied blieb bis ins 18. Jh. populär und wurde im 19. und 20. Jh. fester Bestandteil der katholischen Kirchengesangbücher. Nach dem Zweiten Weltkrieg, schreibt Stock (S. 214), fehlte es in keinem. Erst 1975 sortierte das Gotteslob das Lied aus. Etwa ein Drittel der Bistümer hielt dennoch daran fest, darunter Erfurt, in dessen Bistumsanhang das Lied mit seiner ursprünglichen Melodie und sieben von 15 Strophen unter der Nr. 915 verzeichnet war. Erst seit der Neuauflage aus dem Jahr 2013 fehlt es auch hier.

Im vierten Band der Publikation „Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen“ von Wilhelm Bäumker (1842-1905) in einer Ausgabe aus dem Herderverlag von 1911 habe ich die originale Melodie neben einer Version gefunden, die wie eine Vorstufe zu der Melodie wirkt, die Johannes Brahms in einer Volksliedsammlung vorfand, schauen Sie:

Spees Lied im Original und in textlicher wie melodischer Abwandlung (Wilh. Bäumker, Das kath. dt. Kirchenlied IV; eigene Bilder)

Über weitere Verbindungen von Text und Melodie lesen Sie morgen im zweiten Teil dieses Beitrags.

 

Fortsetzung folgt morgen

 

Cornelie Becker-Lamers