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Der Chesterton-Adventskalender 2024, Tag 1

Thoroughly worldly people never understand even the world; they rely altogether on a few cynical maxims which are not true. Once I remember walking with a prosperous publisher, who made a remark which I had often heard before; it is, indeed, almost a motto of the modern world. Yet I had heard it once too often, and I saw suddenly that there was nothing in it. The publisher said of somebody, „That man will get on; he believes in himself.“ And I remember that as I lifted my head to listen, my eye caught an omnibus on which was written „Hanwell.“ I said to him, „Shall I tell you where the men are who believe most in themselves? For I can tell you. I know of men who believe in themselves more colossally than Napoleon or Caesar. I know where flames the fixed star of certainty and success. I can guide you to the thrones of the Super-men. The men who really believe in themselves are all in lunatic asylums.“ […]
And to all this my friend the publisher made this very deep and effective reply, „Well, if a man is not to believe in himself, in what is he to believe?“ After a long pause I replied, „I will go home and write a book in answer to that question.“ (Ch II, The Maniac)

 

Durch und durch weltliche Menschen verstehen nicht einmal die Welt; sie verlassen sich ganz und gar auf ein paar zynische Maximen, die nicht wahr sind. Ich erinnere mich, einmal mit einem wohlhabenden Verleger spazieren gegangen zu sein, der eine Bemerkung machte, die ich schon oft gehört hatte; es ist in der Tat beinahe ein Motto der modernen Welt. Doch ich hatte es einmal zu oft gehört und sah plötzlich, daß es hohl war. Der Verleger sagte über jemanden: „Dieser Mann wird weiterkommen; er glaubt an sich selbst.“ Und ich erinnere mich, daß, als ich meinen Kopf hob, um zuzuhören, mein Blick auf einen Omnibus fiel, auf dem „Hanwell“ stand. Ich sagte zu ihm: „Soll ich Ihnen sagen, wo die Männer sind, die am meisten an sich selbst glauben? Denn ich kann es Ihnen sagen. Ich kenne Männer, die kolossaler an sich selbst glauben als Napoleon oder Cäsar. Ich weiß, wo der Fixstern der Gewißheit und des Erfolgs brennt. Ich kann Sie zu den Thronen der Übermenschen führen. Die Männer, die wirklich an sich selbst glauben, sind alle in Irrenanstalten.“ […]

Und auf all das gab mein Freund, der Verleger, diese sehr tiefgründige und wirkungsvolle Antwort: „Nun, wenn ein Mensch nicht an sich selbst glauben soll, woran soll er dann glauben?“ Nach einer langen Pause antwortete ich: „Ich werde nach Hause gehen und als Antwort auf diese Frage ein Buch schreiben.“ (Kap. II, Der Wahnsinnige)

Der Chesterton-Adventskalender 2024, Vorabend

Ja, ich weiß. Wir hatten hier schon einmal einen Chesterton-Adventskalender. Das war im Jahr 2011 und es war der erste Adventskalender auf PuLa überhaupt, hier.

Und ich will ehrlich sein, dies ist tatsächlich “Plan C” für die 24 “Türchen” dieses Jahres.
“Plan A” war die Beschäftigung mit Person und Werk Heinr…
Aber halt, das verrate ich lieber doch nicht und füge nur hinzu, daß “Plan B” war, aus einem faszinierenden und weitgehend vergessen gemachten (!) Werk katholisch geprägter deutscher Geschichtsschreibung des 19 Jahrhundert (ja, so etwas gab es!!) zu berichten.
Auf beides hatte ich richtig Lust und habe sie im Prinzip natürlich immer noch, aber da ich mich ja immer noch nicht in Pension befinde 😉 , sondern im Gegenteil gerade mehr und vor allem intensiver arbeite, als die letzten Jahre (eine Langzeitvertretung) hatte ich schlicht weder Zeit noch Kraft für die zwingend erforderliche Recherche, denn zu beiden Themen gibt es nichts, aus dem man einfach Auszüge zurecht machen könnte.

Also habe ich ein bißchen muffelig, wenn Sie so wollen, wieder angefangen, ganz wie vor 13 Jahren auf den täglichen Zugfahrten nach und von Erfurt in einem Werk Chestertons zu lesen, näherhin in “Orthodoxy” (1908), das ich zwar natürlich kannte, aber auch schon wieder Jahre nicht gelesen hatte.

Advent, Advent (ok, noch nicht ganz…)

Und wenn ich 2011 über die Lektüre von “The everlasting man” geschrieben habe: 

Noch nachträglich bitte ich meine Mitfahrer in den Zügen zwischen Erfurt und Weimar um Nachsicht, wenn ich gelegentlich über der Lektüre laut losgeprustet habe, kann aber ehrlicherweise nicht versprechen, es nicht wieder zu tun!”

dann kann ich heute nur feststellen, daß sich insoweit nichts geändert hat – glücklicherweise! Denn Chesterton-Lektüre führt unwillkürlich dazu, daß man vor Lachen innehalten muß, innehalten, weil man ruckartig Distanz gewonnen hat zu dem Irrsinn, der einen, nicht zuletzt kirchlicherseits, gerade umgibt.

Was sich sehr geändert hat, sind hingegen die “Produktionsbedingungen”! Mußte ich damals jedes Stückchen Text händisch eingeben, so findet sich heute der englische Text auf “Project Gutenberg” quasi sofort, hier.

Und während damals die elektronische Übersetzung doch noch arg in den Kinderschuhen steckte, so liefert sie heute auf Anhieb recht ordentlich verwertbare Ergebnisse, egal, was man vom allgegenwärtigen Schlagwort “KI” so halten mag. Nacharbeit ist schon immer noch erforderlich, aber sie fällt leichter und macht so mehr Spaß.

Tatsächlich habe ich von “Orthodoxy” sogar eine deutsche Übersetzung zur Verfügung, sie ist im Jahr 2000 als sehr hübsches Buch

„Orthodoxie“, Frankfurt, Main, 2000

in der sehr verdienstvollen Reihe: “Die andere Bibliothek” im Eichborn Verlag erschienen.

„Orthodoxie“, Frontispiz

Aber ich habe nicht nur viel zu viel Achtung vor der schutzwürdigen (und geschützten) Leistung des damaligen Übersetzerpaares, nein, ich strebe auch, wie damals schon, eher weniger eine “literarisch” geglättete, sondern vielmehr eine eher wörtliche (wenn auch daher manchmal vielleicht holprige) Übertragung an, die uns näher an den englischen Ausgangstext bringt; und manchmal bin ich auch einfach nicht einverstanden mit den damaligen Übersetzungsentscheidungen. 

Martin Mosebach schreibt in seinem Vorwort zu der deutschen Ausgabe:

Zu der Spannung, die [Chestertons] Buch belebt, gehört die radikale Subjektivität, mit der er die radikale Antisubjektivität seines Gegenstandes preist.

Das ist sehr gut gesehen und es handelt sich um eine heitere und eine heilsame Spannung, die sich, s.o., nicht zufällig immer wieder in einem befreienden Lachen entlädt!

Und so gilt auch für das jetzt beginnende neue Kirchenjahr wieder:

Kostprobe gefällig?

I freely confess all the idiotic ambitions of the end of the nineteenth century. I did, like all other solemn little boys, try to be in advance of the age. Like them I tried to be some ten minutes in advance of the truth. And I found that I was eighteen hundred years behind it. […] It may be, Heaven forgive me, that I did try to be original; but I only succeeded in inventing all by myself an inferior copy of the existing traditions of civilized religion. […] I did try to found a heresy of my own; and when I had put the last touches to it, I discovered that it was orthodoxy.

Ich gestehe offen all die idiotischen Ambitionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein. Ich habe, wie alle anderen feierlichen kleinen Jungen, versucht, der Zeit voraus zu sein. Wie sie habe ich versucht, der Wahrheit etwa zehn Minuten voraus zu sein. Und ich stellte fest, daß ich achtzehnhundert Jahre hinter ihr zurückgeblieben war. […] Es mag sein, der Himmel möge mir vergeben, daß ich versucht habe, originell zu sein; aber es ist mir lediglich gelungen, ganz auf mich allein gestellt, eine minderwertige Kopie der bestehenden Traditionen zivilisierter Religion zu erfinden. […]
Ich habe versucht, meine eigene Häresie zu begründen; und als ich ihr den letzten Schliff gegeben hatte, entdeckte ich, daß es Orthodoxie war.

 

Morgen geht’s los!

 

Gereon Lamers

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 24

Nun weiß ich, daß der Herr aus dir redet,
denn du bist seines Schweigens mächtig!
Du hast es erlernt wie eine gewaltige Sprache:
deine Worte sind nur seine Herolde.
Wenn es anhebt, verstummt das Brausen deiner Dome:
deine starken Orgeln alle verhalten ihren Atem.

Deine Psalmen fallen vor ihm nieder, und deine Chöre brechen lautlos zusammen.
Es ist, als beugten sich Meereswogen,
und die großen Stürme falteten ihre Flügel.
Die große Unrast der Menschen verhaucht wie ein Kind.

Schön ist ihr Ende, und selig ist es: sie geht dahin mit Weihrauch und Lichtern in den Händen,
Ihr Sterbelaut ist ein Lobpreis.
Du legst ihn auf deine letzten Gebete, ehe der Herr kommt;
die sind schneeweiß, als blende es deine Stimme:
Niemand kann sie mehr vernehmen.
Denn dich überlichtet schon, dem du erdunkelst:
siehe, er sank hernieder, dem du versinkst.

Gertrud v. Le Fort, Hymnen a.d. Kirche

Gereon Lamers, @GGLamers am 30.12.2021

Gerade in dieser Zeit durfte, konnte eine Quasi-Anthologie Katholischer Dichtung nur mit einem Loblied, einer Hymne an die Kirche enden.
Sie wird sich entweder auch aus der augenblicklichen Malaise wieder erheben, strahlend!, oder aber ihr Ende wird sein, wie hier von Gertrud v. Le Fort beschrieben.
(Was sich nicht auf Dauer fortsetzen wird, ist das unwürdige Theater, das die Mehrheit der Kirche in Deutschland abliefert)

PuLa wünscht allen Leserinnen und Lesern ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest, eine ebensolche Weihnachtszeit (bis 2. Februar! 😉 ) und ein gutes neues Jahr!

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 23

Die alten Türme sah man längst schon wanken,
Was unsre Väter fromm gebaut, errungen,
Thron, Burg, Altar, es hat sie all verschlungen
Ein wilder Strom entfesselter Gedanken.

Der wühlt sich breit und breiter ohne Schranken,
Ein Meer, wo zornigbäumend aufgeschwungen
Die trüben Fluten Fels um Fels bezwungen,
Und alle Rettungsufer rings versanken.

Doch drüberhin gewölbt ein Friedensbogen,
Wohin nicht reichen die empörten Wogen,
Und unter ihm ein Schiff dahingezogen,
Das achtet nicht der Wasser wüstes Branden,
Das macht der Stürme Wirbeltanz zuschanden –
O Herr, da laß uns alle selig landen!

Joseph v. Eichendorff, 1848, VI -Das Schiff der Kirche

Getwittert von Herr Rasmus, @herr_rasmus am 22.4. 2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 22

Aus schwarzgewordnem Bronze-Gruftendeckel
Sind die berühmten schweren alten Verse,
Kalt anzufühlen, unzerstörbar, tragend
Den Toten-Prunk, schwarzgrüne Wappenschilde
Und eine Inschrift, ehern auf dem Erz,
Die denken macht, doch keinen Schauer gibt.
Du liest und endlich kommst du an ein Wort,
Das ist, wie deine Seele oft geahnt
Und nie gewußt zu nennen, was sie meinte.
Von da hebt Zauber an. An jedem Sarg
Schlägt da von innen mit lebendgen Knöcheln
Das Leben, Schultern stemmen sich von unten,
Der Deckel dröhnt, wo zwischen Erz und Erz
Die schmalste Spalte, schieben Menschenfinger
Sich durch und aus den Spalten strömt ein Licht,
Ein Licht, ein wundervolles warmes Licht,
Das lang geruht im kühlen dunklen Grund
Und Schweigen in sich sog und tiefen Duft
Von nächtigen Früchten – dieses Licht strömt auf,
Und auf die Deckel ihrer Grüfte steigen,
Den nackten Fuß in goldenen Sandalen,
Die tausende Lebendigen und schauen
Auf dich und auf das Spiel gespenstiger Reihen
Und reden mehr als du begreifen kannst.

Hugo v. Hofmannsthal, Nach einer Dante-Lektüre

Gereon Lamers, @GGLamers am 22.4.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 21

Jungfrau und Mutter, Tochter Deines Sohnes,
bescheidenstes und höchstes der Geschöpfe,
im ewigen Plan bestimmt und auserwählt,

Du hast in Dir die menschliche Natur
so hoch geläutert, daß der Schöpfergott
sich gerne geben ließ als ihr Geschöpf.

In Deinem Blute regte sich die Liebe,
die lebenswarme wieder, die im Frieden
vor Gott hier diese Rose knospen ließ.

Uns Seligen bist Du die Mittagssonne,
die Liebe, und den Sterblichen auf Erden
bist Du der Hoffnung lebensvoller Quell.

Du Herrin bist so groß und bist so mächtig,
daß jedem Flehenden, der Dich nicht sucht,
mit lahmen Flügeln seine Sehnsucht schmachtet.

Zur Hilfe aber eilet Deine Güte
dem Bittenden: und oft aus freier Hand
bringt sie Gewähr, noch eh die Bitte ging.

Frommes Erbarmen, Mitleid, Herrlichkeit
und alles Gute eines Menschenherzens,
in Dir, in Dir, in Dir ist es vereint.

Sieh, dieser, der vom tiefsten Nichts der Welt
bis hieher stufenweise schauen durfte
die geistigen Lebensformen aller Seelen,
fleht jetzt zu Dir.

Verleih ihm, Gnadenvolle,
noch soviel Kraft, daß er mit Augen sich
höher erhebe bis zum letzten Heil.

Dante Alighieri, La Divina Commedia. Paradiso, Canto 33

Getwittert von Herr Rasmus, @herr_rasmus am 23.9.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 20

Geschämig tritt die falbe Aurora vor das Himmelshaus,
da legt die graue Schwalbe fromm plaudernd ihre Träume aus.
Da sinken in das Blaue der Sterne Geisteraugen ein,
da wäscht sich in dem Taue das Licht den Sonnenschleier rein.

Clemens Brentano

Getwittert von Gereon Lamers, @GGLamers am 21.10.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 19

Fern im Osten wird es helle,
Graue Zeiten werden jung;
Aus der lichten Farbenquelle
Einen langen tiefen Trunk!
Alter Sehnsucht heilige Gewährung,
Süße Lieb in göttlicher Verklärung!

Endlich kommt zur Erde nieder
Aller Himmel selges Kind,
Schaffend im Gesang weht wieder
Um die Erde Lebenswind,
Weht zu neuen ewig lichten Flammen
Längst verstiebte Funken hier zusammen.

Überall entspringt aus Grüften
Neues Leben, neues Blut;
Ewgen Frieden uns zu stiften,
Taucht er in die Lebensflut;
Steht mit vollen Händen in der Mitte,
Liebevoll gewärtig jeder Bitte,

Lasse seine milden Blicke
Tief in deine Seele gehn,
Und von seinem ewgen Glücke
Sollst du dich ergriffen sehn.
Alle Herzen, Geister und die Sinnen
Werden einen neuen Tanz beginnen.

Greife dreist nach seinen Händen,
Präge dir sein Antlitz ein,
Mußt dich immer nach ihm wenden,
Blüte nach dem Sonnenschein;
Wirst du nur das ganze Herz ihm zeigen,
Bleibt er wie ein treues Weib dir eigen.

Unser ist sie nun geworden,
Gottheit, die uns oft erschreckt,
Hat im Süden und im Norden
Himmelskeime rasch geweckt,
Und so laßt im vollen Gottes-Garten,
Treu uns jede Knosp und Blüte warten.

Novalis, Geistliche Lieder II

Getwittert von Nota bene, @notate_bene am 9.12.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 18

Decke mich denn am Ende
Mit Weiden und weißem Klee,
Rosen als letzte Spende
Tun meinem Herzen weh.

Lilien als letzte Gabe
Sind nur der Jungfrauen Gut,
Über dem armen Grabe
Singen Vögel bei ihrer Brut.

Weiden und brütende Meisen
Über dem Hügel zur stillen Zeit –
Und ich darf lächelnd reisen
In die tiefste Verborgenheit.

Ruth Schaumann, Die Kleine Bitte

Getwittert von Gereon Lamers, @GGLamers am 6.5.2021

Der Buch-Geschenktip zum Adventskalender, Nr. 3

… erscheint erneut erst heute am Sonntag, was Sie mir hoffentlich nachsehen wollen. 😉

Unser heutiges Buch ist bestimmt das originellste unter den drei Vorschlägen und, wobei die Psalmen natürlich außer Konkurrenz laufen, auch das schönste.

Es handelt sich um:

Eleanor Parker, Winters in the World: A Journey Through the Anglo-Saxon Year
Reaktion Books, London 2022, gebunden 18,70 €
ISBN-13: ‎ 978-1789147735

So sieht es aus:

E. Parker, Winters in the World (eigenes Bild)

“Winters in the world”, so nannte man unter den Angelsachsen die Lebensjahre eines Menschen, bezeichnenderweise nach der ernstesten Jahreszeit, und die Autorin nimmt diesen Ausdruck als Titel ihres Werkes, und um ihre “Reise durch das Jahr“ dann auch mit dem Winter zu beginnen.  

Nur, warum sich überhaupt mit dem ‘Jahr der Angelsachsen’ beschäftigen?
Ehrlich gesagt, die Antwort fällt gar nicht so leicht! 

Am einfachsten ist es noch, einen Nebenaspekt zu fassen zu kriegen, wenn der auch für katholische Leser nicht unerheblich ist: Es war gerade die frühmittelalterliche, angelsächsische Literatur, die J.R.R. Tolkien zu seinen Werken inspiriert hat! Allen Dichtungen voran natürlich das Beowulf-Liedaus dem auch E. Parker ausführlich zitiert, und so den Tolkienschen Kosmos immer wieder aufscheinen läßt.
Denn so funktioniert das Buch: Verschiedene altenglische Texte werden im Original vorgestellt (und in neu-englischer Übersetzung, natürlich) und auf ihre Relevanz für das, was darin zum Ausdruck kommt, über das Zeit-Gefühl überhaupt und über die jeweilige Jahres-Zeit befragt. 

Dabei kommt es zu einem intensiven Ineinander von agrarischer, poetisch erlebter und, natürlich ganz wesentlich, liturgischer Zeit. 

Das Ergebnis ist, wie gesagt, gar nicht einfach zu schildern. Aber es ist absolut nicht trocken oder akademisch (obwohl Parker sehr ordentlich mit wissenschaftlichen Nachweisen arbeitet!)! Im Gegenteil, es stellte sich bei mir ein Lese-Erlebnis ein, das man gar nicht so oft hat und gar nicht hoch genug schätzen kann: Jedesmal, wenn ich das Buch aus der Hand lege, fühle ich Ruhe und Freude. Es ist im allerbesten Sinne ein Buch, das gute Laune macht.
Wehmut bereitet es freilich auch, wenn es wieder und wieder heißt: ‘Der fragliche Brauch war bis in die XXiger Jahre des 20. Jahrhunderts präsent, bevor er durch “Reform” XY zum Erliegen kam.  🙁 

Die Autorin hält sich dabei allerdings mit Wertungen stets vornehm zurück, ihr gelingt eine wirklich überaus angenehm ruhige und zurückhaltende Prosa, der man sozusagen ihre zweifellos vorhandene Begeisterung für den Gegenstand vor allem dann anmerkt, wenn man schon begonnen hat, dieselbe zu teilen!
Erwähnenswert noch, daß Frau Parker was Fragen der christlichen Chronologie und Festentstehung angeht, auf dem neuesten Stand ist, Albernheiten, wie das scheinbar nicht auszurottende Gerücht vom heidnischen Ursprung der Weihnacht beispielsweise braucht man bei ihr nicht zu gewärtigen… 

Hingegen bringt sie eine für mich jedenfalls neue und wirklich sehr interessante Theorie zum Ursprung des Wortes “Ostern”; die Spur führt nach England, genauer nach Kent (S. 124 -27, bes. S. 125), aber ich verrate nichts, denn ich möchte ja wirklich, daß Sie das Buch kaufen. 😉

Sehr, sehr gerne läse man solch ein Buch auch über die nämliche Zeit in Deutschland (bzw. den Gegenden, die dann Deutschland werden sollten), aber so ein Buch kenne ich leider nicht. Es hilft aber sehr, wenn man versucht, sich die altenglischen Texte laut vorzulesen, denn dann merkt man, das ist nichts uns völlig fremdes, nein, das ist eben die Sprache eines “germanischen Sammelvolks” (vor der Überformung durch das Französische nach der normannischen Invasion) und zu der haben wir natürlich als Deutsche einen sprachgeschichtlich bedingten Zugang. 

So bin ich sicher, Sie werden die Anschaffung, bzw. das Verschenken dieses Buchs nicht bedauern, falls Sie, oder die zu beschenkende Person, irgendeinen Sinn für das haben, was ich gerade versucht habe zu schildern. Es gibt inzwischen auch eine Taschenbuchausgabe, die aber nur etwas fünf Euro preiswerter ist, ich würde das Hardcover empfehlen. Nur “ganz leise” und im Grunde ungern füge ich hinzu: Der örtliche Buchhandel, den es sonst immer zu stärken gilt!, ist nach meiner Erfahrung in der Beschaffung fremdsprachiger Literatur immer mal wieder etwas umständlich und vor allem langsam, daher bietet sich hier vielleicht doch der elektronische Versandhandel an, vor allem, wenn man bedenkt, Weihnachten ist schon nächsten Sonntag! 

Gereon Lamers