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Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 2

Vor einem hellen Marienbild
Spielte ein Bettler die Geige.
Die Vögel sangen im Herbstgefild,
Der Tag ging schon zur Neige.

Er spielte der Reben süße Last,
Die hingen ihm bis zur Stirne,
Er spielte den reifen Apfelast
Und der Berge schneeige Firne.

Er spielte der blauen Seen Licht,
Die leuchteten ihm aus den Augen.
Er sang zu der Geige und immer noch nicht
Wollte das Lied ihm taugen.

Da sang er den Mond und die Sterne dazu
Die konnte er alle verschenken
Und weinte des Waldes einsame Ruh,
Die tät seine Geige tränken.

Er spielte und sang und merkte kaum
Wie Maria sich leise bewegte
Und ihm beim Spiel ihrer Hände Schaum
Auf die wehenden Locken legte.

Er drehte beim Spiele sich hin und her,
Das tönende Holz unterm Kinne.
Er wollte, daß seine süße Mär
In alle vier Winde zerrinne.

Da stieg die Madonna vom Sockel herab
Und folgte ihm auf seine Wege.
Die gingen bergauf und gingen bergab
Durch Gestrüpp und Dornengehege.

Er spielte noch, als schon der Hahn gekräht
Und manche Saite zersprungen.
Auf Dreien spielt er die Trinität
Auf zweien die Engelszungen.

Zuletzt war es nur noch das heimliche Lied
Vom eingeborenen Sohne.
Maria deckte den Mantel auf ihn
Darin schläft er zum ewigen Lohne.

Hugo Ball, Legende

 

Getwittert von Gereon Lamers, @GGLamers am 25.11.2021

Der #KatholischeDichtungamDonnerstag-Adventskalender, Tag 1

Ich sturbe gerne von minnen
mehte es mir geschehen
den jenen den ich minne
den hân ich gesehen
mit mînen liehten ougen
in mîner sêle stân

Mechthild von Magdeburg

Getwittert von Sabine, @Sabine44509768 am 12.8.2021
(vielleicht heißt es auch “möhte”)

Der #KDaD-Adventskalender – Vorabend

Wie in jedem Jahr bemerkte man das Herannahen der adventlichen Zeit, nein, nicht an den Lebkuchen, die um den 10. September in die Geschäfte geräumt wurden, gegen diese Absurdität sind wir inzwischen weitestgehend immun (und es ist ja auch viel zu früh, um hier sinnvoll von irgendeiner Form des ‘Nahens’ sprechen zu können), sondern an einem ganz anderen “Ort”.
Auf “X” nämlich, ‘the platform formerly known as Twitter’. Dort streiten sich nämlich in der Voradventszeit immer wieder Nutzer, vorwiegend Amerikaner, um die Frage, ob es eigentlich sündhaft sei, vor Weihnachten, oder gar schon vor dem Advent Weihnachtsdekoration und weihnachtliches Brauchtum zu installieren, respektive zu pflegen. 

Eine lustige Debatte, häufig auch wohl nicht ganz ernst geführt, sondern mit angelsächsischem “tongue in cheek”. Zumeist ist sie lustig, jedenfalls. Manchmal kann sie auch ganz unerwartet richtig verbissen ausarten und endet mit gegenseitigen “Blockaden”, was ich immer sehr traurig finde.
Nicht, daß das Thema nicht grundsätzlich ernst wäre! Natürlich ist es das. Schon oft haben wir auf PuLa beklagt, wie Menschen die Weihnachtszeit geradezu „wegschmeißen“, indem sie sie auf ihre Äußerlichkeiten reduziert viel zu früh beginnen und dann am 26ten oder 27ten den Baum “entsorgen”, ohne daß sich ihnen von dem, was Weihnachten ausmacht, etwas wirklich mitgeteilt hätte.
Nur ist es eben keine Lösung, solche Leute zu beschimpfen, sondern es gilt, ihnen ebenso entspannt wie entschlossen vorzuleben, wie es richtig gehen kann, auf keinen Fall aber darf man die Sehnsucht nach Tradition(en) und Ritual(en), die sich hier, wenn auch irregeleitet, Bahn bricht ins Lächerliche ziehen, vielmehr gilt es, sie zu nutzen, damit auch diese Menschen irgendwann verstehen können, worum es wirklich geht! 

Der diesjährige Adventskalender auf PuLa wird jedenfalls etwas mit Social Media, genauer mit (bleiben wir noch ein wenig beim alten Namen) Twitter zu tun haben, aber ich verspreche Ihnen, Sie werden ihn auch ohne Affinität zu diesem Phänomen genießen können! 

Zuvor aber gibt es aber noch eine Restante dieses zu Ende gehenden Kirchenjahres abzuarbeiten.

Sie wissen, zum Adventskalender jeden Jahres gehört auch das aus ihm in irgendeiner Form thematisch hervorgehende „Bildnis des Bloggers mit seltsamer Kopfbedeckung”. Und das sind wir Ihnen bisher schuldig geblieben. Heute, und damit zugegeben am letztmöglichen Tag, kommt es aber doch! Sie erinnern sich, der zurückliegende Adventskalender beschäftigte sich mit Konversionen, bzw. den Menschen, die diese Gnade erfahren durften. Und zu diesem sehr diversen Personenkreis gehörte auch: John Wayne.
Wer jetzt sagt: “Und bei der Vorlage habt ihr bis zum letzten Tag des Kirchenjahres gebraucht, mit dem Bild?!”, dem wollen wir gar nicht widersprechen, aber so war es eben.

Egal, wie immer: Enjoy: 🙂

Bildnis der Bloggers mit eigentümlicher Kopfbedeckung für das Kirchenjahr 2022/23 (eigenes Bild)

Dann möchte ich eine alte Tradition der Adventskalender als Variation wieder aufleben lassen, nämlich Sie an den Lektüreerfahrungen des zurückliegenden Jahres teilhaben zu lassen. Diesmal in der Form von Kurzrezensionen dreier Bücher, jeweils an den Samstagen, die zugleich als Geschenktips dienen können (drei Bücher, denn am Samstag, den 23ten ist es dafür ein wenig spät 😉 ). Ich hoffe, die Bücher, von denen nur eines ganz explizit katholisch ist, gefallen Ihnen!

Geschenktips für Weihnachten 2023 (eigenes Bild)

Was hat es aber nun mit dem Hashtag und der komischen Abkürzung in der Überschrift auf sich?
Sie steht aufgelöst für
“Katholische Dichtung am Donnerstag” (auf Twitter/X finden Sie tatsächlich die Langform als Hashtag: #KatholischeDichtungamDonnerstag) und es handelt sich um ein spontan entstandenes Twitter-”Projekt” des Jahres 2021.
Und zwar des ganzen Jahres 2021! Ganz genau weiß ich schon gar nicht mehr, wie es losging, eine Nutzerin hatte, glaube ich, ein ‘katholisches Gedicht’ getwittert und ich hatte die Idee, daraus eine Gemeinschaftsaktion zu machen, dergestalt, daß alle, die mittun wollten, ein Jahr lang am Donnerstag je ein solches Werk (ggf. in Auszügen) twittern sollten. 

Und zu meiner großen Freude hat das geklappt! An 52 Donnerstagen haben so Menschen aus dem deutschsprachigen Raum und sogar darüber hinaus Gedichte katholischer Autorinnen und Autoren (oder solche, die sich anderweitig als „katholische” qualifizierten)  ausgesucht und präsentiert. 

Eine richtig schöne Erfahrung, die zeigt, wozu die vielgescholtenen Social Media eben auch genutzt werden können, in den richtigen Händen! Gemeinschaft schaffen, Spontaneität erlauben und Kultur verbindend werden zu lassen. Nicht schlecht, oder?

Ich habe die deutlich über 200 Gedichte, die so zusammengekommen sind, jedenfalls als große und dauerhafte Bereicherung erfahren, und ich glaube, es ging den Mittuenden nicht anders. 

Nun ist an dieser Stelle leider ein kleiner Exkurs zu dem, was in den vergangenen zwei Jahren rund um die Plattform geschehen ist, unvermeidlich.

Vermutlich hat nun wirklich jede und jeder, die/der einen Computer bedienen kann (und ergo alle, die das hier lesen 😉 ) mitbekommen, daß Twitter unter Aufsehen erregenden Umständen von einem gewissen Elon Musk gekauft wurde. Für 44 Mrd. Dollar… Seitdem gibt es dort verschiedene Entwicklungen, die ich teils bedauerlich finde, teils sehr erfreulich.

Zu den bedauerlichen zählt, daß man, ohne angemeldet zu sein (wofür es selbstverständlich allererst einen Account braucht), praktisch kaum noch etwas auf X zu sehen bekommt. Und das ist für das Vorhaben der nächsten 24 Tage natürlich hinderlich! Ich kann nicht direkt auf die Beiträge verlinken! Und auch die Umbenennung als solche finde ich schlicht deppert.
Zu Herrn Musk und seinen Aktivitäten insgesamt habe ich eine sehr differenzierte Meinung, was uns aber auf einem katholischen Blog nicht zu interessieren braucht.
Nur die geradezu hysterische Reaktion aller, die sich irgendwie für “fortschrittlich” (oder so) halten, die darauf hinausläuft, mit ihm sei das Ende von “Demokratie” und Meinungsfreiheit auf der Plattform ausgebrochen, das ist, mit Verlaub, absoluter Unsinn.
Wer so redet, hat offensichtlich das extrem hilfreiche neue Format der “community notes” nicht begriffen, oder – lehnt es ab, warum wohl? Und der will wohl auch nicht, daß über die sog. “Twitter files” weiter gesprochen wird, die wirklich krasse Ansätze zur Zensur durch die US-Regierung aufgedeckt haben, warum wohl?
Ich will es Ihnen sagen, warum das so ist, denn für uns war es ganz leicht zu erkennen, wir kennen diese Art von Reaktion schon seit den Anfängen von PuLa: Es ist die Furcht vor dem Verlust der Deutungshoheit.
Immer noch und in immer neuen Wendungen. Nichts anderes.

Außerdem macht mir ein exzentrischer US-Milliardär kategorial weniger Sorgen als die Bestrebungen einer weitgehend anonymen Riesen-Institution wie  der EU-Kommission, etwa zur Chatkontrolle. Wenn Sie auf diesem Feld auch nur anfangen wollen, sich zu gruseln, hier ein kleiner Einstieg (und heise ist dezidiert ein eher “linker” Verlag!)

Nun aber genug davon! Heute gibt es, wie immer, einen Vorgeschmack auf das, was Sie im kommenden, heuer ja recht kurzen Advent erwartet und “Morgen geht’s los!“ 🙂 

Gewalt der Stille

Wir sind so sehr verraten,
von jedem Trost entblößt,
in all den wirren Taten
ist nichts, das uns erlöst.

Wir sind des Fingerzeigens,
der plumpen Worte satt,
wir woll’n den Klang des Schweigens,
das uns erschaffen hat.

Gewalt und Gier und Wille
der Lärmenden zerschellt.
O komm, Gewalt der Stille,
und wandle du die Welt.

Werner Bergengruen

Getwittert von Nota bene, @notate_bene am 2.12.2021

 

PS: Wer dächte hier nicht an das Buch von R. Kardinal Sarah: Kraft der Stille, Gegen eine Diktatur des Lärms?!

Gereon Lamers

„Wie eine Pflanze gepflegt“

Der Katholische Kindergarten St. Elisabeth Weimar wird 100

 

Kindergärten stammen aus Thüringen.

Das wäre richtig, wenn es denn im 19. Jahrhundert Thüringen und nicht nur die acht verschiedenen Herzog- und Fürstentümer gegeben hätte, aus denen nach Ende des Ersten Weltkriegs das Land Thüringen – zunächst ohne das preußische Erfurt –zusammengesetzt wurde. So muß man präzisieren, daß die Idee eines „Kindergartens“ zum ersten Mal in Blankenburg im Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt realisiert wurde.

Aber Sie sehen, es gilt wieder einmal: Wer hat’s erfunden? – Mitteldeutschland! 😉

Natürlich gab es auch zu dieser Art von Kindergarten Vorstufen. Aber die Ideale Friedrich Fröbels, nach denen die Kleinen wie eine Pflanze gehegt und gepflegt aufwachsen sollten, wurden eben zum ersten Mal 1840 im thüringischen Blankenburg konkret umgesetzt.

Das war den Preußen, so liest man, alles zu sanftmütig. Man war zwar nicht prinzipiell gegen die gemeinsame Betreuung von Kindern. Aber alles schön staatlich organisiert. So daß man 1851 in Preußen Kindergärten zunächst einmal verbot.

Minna Schellhorn, eine Schülerin Fröbels, scherte sich allerdings nicht um die Verbote, die im nahen westlichen Ausland greifen mochten, und gründete im selben Jahr den ersten Kindergarten nach Fröbels Erziehungsmaßstäben in Weimar, in der Erfurter Straße.

Bis es den ersten Katholischen Kindergarten in Weimar gab, dauerte es im Kernland der Reformation mal wieder noch ein paar Jahrzehnte. Aber 1923 war es so weit. Die nach ihrem Habit so genannten Grauen Schwestern, seit 3. Oktober 1919 in Weimar ansässig, gründeten einen Kindergarten, den sie nach ihrer Patronin St. Elisabeth nannten.

Unser Weihbischof Reinhard, bekanntermaßen Weimaraner und von daher selber einstiger Zögling dieser Einrichtung, zelebriert aus diesem Grunde zur Stunde ein Festhochamt in Herz Jesu (welches wir – Sie merken es – leider selber nicht besuchen können. Aber wir nehmen selbstverständlich inneren Anteil an der Sache). Denn es ist der 19. November, der Gedenktag der Heiligen Elisabeth, und man stellt dieses Fest dem besonderen Ereignis zuliebe einmal nicht – wie sonst vorschriftsmäßig die Heiligengedenktage – hinter den Sonntag zurück.

Nach wie vor ist nicht allen Gemeindemitgliedern bewußt, daß der Kindergarten gar nicht mehr zur Pfarrei gehört. Da er nach wie vor auf der Homepage unserer Pfarrgemeinde auftaucht, ist das auch niemandem zu verdenken. Aber PuLa-Leser erinnern sich: Am 1. Juli 2013  ging die Zuständigkeit von der Pfarrgemeinde auf die Trägergesellschaft Sankt Martin der Caritas über.

Daß die Entscheidung zu diesem Übergang damals mal wieder als recht einsame Entscheidung ohne Beratung in einer Gemeindeversammlung per Umlaufbeschluß im Pfarrgemeinderat gefallen ist (immerhin schrieb der PGR damals noch Protokolle und hängte sie auf das nachdrückliche Drängen etlicher Gemeindemitglieder auch aus, so daß man zumindest nachträglich von den Beschlüssen, die alle angehen, erfuhr. Das ist seit der Umstrukturierung dieser Gremien im Jahr 2016/17 leider anders) – wie gesagt: daß und wie diese Entscheidung gefallen ist, erregt nach wie vor die Gemüter und es ist sicherlich spannend zu hören, ob und wenn ja wie der Weihbischof sich auch zu diesem Umstand heute geäußert haben wird. Kommunikation und Informationsfluß können ja dem Zusammenhalt einer Gruppe eigentlich immer nur dienlich sein und es ist bedauerlich, daß an dieser wie an so vielen andern Stellen unserer Pfarreigeschichte hinsichtlich des Warum und Weshalb die Große Erzählung fehlt, auf die sich alle Gemeindemitglieder einigen können und die irgendwie alle kennen.

 

Zum Abschluß habe ich deshalb noch etwas Schönes für Sie. Etwas, was nicht geheimgehalten wird und was jeder kennen kann. Sie erinnern sich, daß es zum 100. Jahrestag der Ankunft der Elisabethschwestern in Weimar am 3. Oktober 2019 einen Festakt gab, den die Cäcilini musikalisch zu gestalten ganz offiziell (wenn auch wie immer ohne einen Cent Aufwandsentschädigung) beauftragt worden waren. Damals habe ich, nach Gesprächen mit Schwester Petra oben im dritten Stock des alten Elisabethheims, auch ein Lied zur Ankunft der Schwestern nach dem Ersten Weltkrieg verfaßt. Da kommt zwar der Kindergarten nicht vor, aber die ganze Zeit und die Lebensumstände direkt nach dem Ersten Weltkrieg sind glaube ich ganz gut eingefangen.

Ich habe das Lied vor wenigen Monaten online gestellt und möchte es Ihnen hier vorspielen. Enjoy 🙂

 

Cornelie Becker-Lamers

UPDATED: Liturgie und Musik in Herz-Jesu Weimar, Heute, 4. November, 18.00 Uhr

So, “the news are in”, wenn ich so sagen darf! 😉

Gesungen wird von Max Reger die Choralkantate für Sopran, gemischten Chor, Violine, Viola und Orgel: “Meinem Jesum laß ich nicht”, WoO V/4 Nr. 4 von 1906 und, sofern wir das richtig verstanden haben, eine [dann zeitgenössische] Messe von  Bartosz Michałowski.

Schön und interessant und ich bin schon sehr gespannt!

 

Gereon Lamers
15.30 Uhr

Wir freuen uns, in sozusagen nahtloser Ergänzung des gestrigen Beitrags erneut auf Musik in Herz-Jesu Weimar hinweisen zu können, wieder mit der Sopranistin Marijke Daphne Meerwijk und diesmal im Rahmen der Liturgie, wie es sich für eine Kirche geziemt! 

Sie ist heute abend im Rahmen der (Vor-) Abendmesse (Zelebrant Pfr. i.R. Preis) solistisch zu hören, zusammen mit unserem Kirchenchor (!) und ich gehe einmal stark davon aus, daß sie nichts dagegen hat, wenn wir den folgenden Screenshot zwar nicht von ihrer Homepage, aber vor ihrem Instagram Account (@marijkedaphne) hier wiedergeben.

 

Welches Werk von Max Reger genau zur Aufführung kommt, haben wir die Künstlerin gefragt, aber bisher noch keine Antwort erhalten; wir tragen die Information ggf. im Laufe des Tages nach. [vgl. oben!]

 

Gereon Lamers

Konzerte in und um Herz Jesu

Bevor am vergangenen Samstag, dem 28. Oktober, die Regensburger Domspatzen der katholischen Pfarrei Weimar ihre musikalische Aufwartung gemacht haben (ich konnte es mir leider nicht anhören und kann es daher auch nicht selber rezensieren), war pünktlich zum Gedenktag der Heiligen Hildegard am 17. September (2023 mit halbrundem Geburtstag) ein Konzert mit den mittelalterlichen Kompositionen der Visionärin, Medizinerin und Musikerin zu hören gewesen. Die Sopranistin Marijke Daphne Meerwijk, seit sieben Jahren in Weimar zuhause und seit langem mit dem Werk Hildegards künstlerisch befaßt, hatte, gespickt mit einführenden Texten, mit einigen dieser heute fremdartig anmutenden Werke den Kirchenraum allein durch ihre Stimme gefüllt.

Bevor ich das vergangene Konzert rezensiere, möchte ich auf ein kommendes hinweisen: Marijke Daphne Meerwijk ist eine vielseitige Sängerin und war im September nicht nur in der Produktion von Glucks „Orpheus und Euridike“ des Eckhoftheaters in Schloß Friedenstein Gotha zu hören. Sie wird auch am 5. November 2023 in Ilmenau anläßlich der dortigen Kirchweih mit dem in Herz Jesu Weimar ja gut bekannten Organisten Albert Schöneberger dessen Komposition „Vom Kreuz … zum Licht“ aufführen.

Ich könnte mir vorstellen, daß ein Besuch dieses Konzertes lohnen wird.

Nun aber zurück zu Hildegard und dem Konzert, das am 17. September 2023 bereits stattgefunden hat. Wie kommt man als Sängerin an das Werk einer Heiligen aus dem Hochmittelalter, um sich selbständig Stücke daraus für ein Konzertprogramm zu erarbeiten? Nun, 1998 feierte man den 900. Geburtstag Hildegards von Bingen (1098-1179). Zu diesem Jubiläum vor 25 Jahren erschienen eine Reihe von Biographien, Ausstellungskatalogen und Ausgaben ihrer Schriften und die Anerkennung ihrer Leistungen nicht nur als Klostergründerin und Äbtissin, sondern auch als Medizinerin, Pflanzen- und Sexualkundlerin, Visionärin, Kirchenlehrerin und Komponistin setzte sich meinem Eindruck nach in der Folge geradezu im allgemeinen Bewußtsein durch. Die Kräuterkundige paßt halt auch in den Öko-Diskurs.

Was die Kompositionen Hildegards betrifft, so hatten die zur 900-Jahrfeier erscheinenden Bücher nach wie vor nur davon berichten können. Man war noch dabei, ein Fenster aus der Rochuskapelle in Bingen zu restaurieren, das Hildegard als Komponistin zeigt. Da ich im Internet keine Abbildung des Fensters finden konnte, möchte ich Ihnen hier die Fotografie aus einem der Ausstellungskataloge des Jubiläumsjahres zeigen:

Hildegard als Komponistin, Kirchenfenster aus der St.-Rochuskapelle Bingen/ Rh., fotografiert aus: Hildegard von Bingen (1098-1179), hg. von H.-J. Kotzur, Mainz: von Zabern 1998, S. 191. Das Schriftband neben der linken Figur nennt die Heilige beim Namen (eigenes Bild)

Denn ebenfalls erst 1998 erschien ein Faksimiledruck mit den Liedern Hildegards aus dem  sogenannten Rupertsberger Riesencodex, der Hildegards Werke mit Ausnahme ihrer medizinischen und naturwissenschaftlichen Schriften aufbewahrt hat. Das schöne an diesem Codex ist, daß er die Melodien nicht nur in Neumen aufzeichnet, sondern diese bereits auf den damals üblich werdenden vier Notenlinien mit roter F-Linie und C-Schlüssel notiert. Die Tonhöhen der Melodie sind somit eindeutig festgehalten. Frei zu gestalten ist, scheint mir, nurmehr der Rhythmus, der im allgemeinen dem Fließen gregorianischer Gesänge angepaßt wird und der gewöhnlichen Sprach’melodie‘ folgt.

Folium 466 recto des Riesencodex mit Kompositionen Hildegards von Bingen(Wikimedia commons)

An den zum Teil mitten in der Zeile nach unten springenden roten Linien sieht man, wie oft der Notenschlüssel (als kleines c zwei Notenlinien über dem f erkennbar) verschoben wird, um ohne Hilfslinien die häufig eine Duodezime, zum Teil sogar bis zu zwei Oktaven ausschreitenden Melodiebögen zu notieren.

Auch diese durchaus bezahlbare Faksimileausgabe der Noten ist nun aber schon wieder 25 Jahre alt und hat Eingang ins Ausbildungsprogramm der Musikhochschulen – und den Notenschrank Marijke Daphne Meerwiijks gefunden. Die wie gesagt seit einigen Jahren in Weimar ansässige Niederländerin hat sich im Rahmen ihrer Spezialisierung auf Alte Musik mit den Gesängen auseinandergesetzt, die Hildegard nicht nur gedichtet, sondern auch komponiert hat. Mit kleinen Ansprachen zu Leben und Werk der Komponistin aufgelockert, gestaltete die Sängerin ein dreiviertelstündiges Soloprogramm, in dessen Melodien man sich mit der Zeit mehr und mehr einhörte. Obwohl das Hochmittelalter mit Fideln, Leiern, Harfen und Orgelportativen bereits über Melodie- und Harmonieinstrumente verfügte, ist es ebenso üblich, Hildegards Gesänge solistisch vorzutragen wie sie mit einem Streichinstrument oder Orgel zu unterlegen. Da sind, um diesen schönen Ausdruck auch einmal zu gebrauchen, der Phantasie glaube ich derzeit wenig Grenzen gesetzt.

Ein sehr schönes Konzert, bei dem ich mich allerdings fragte, ob der nicht ganz optimale Stimmsitz in der hohen Lage eben der Tatsache geschuldet war, daß die Sängerin ganz allein war – ohne Begrüßung und ohne jemanden, der oder die die besagten Sprechtexte übernommen hätte. Womöglich ist ein solches Programm zu zweit noch besser zu realisieren als ganz allein.

Marijke Meerwijk zeigt dem Konzertpublikum im Anschluß an ihr Soloprogramm am 17. September 2023 in Herz Jesu Weimar die Lieder Hildegards von Bingen im faksimilierten Teil des Riesencodex (eigenes Bild).

BILD Meerwijk1; BU: Marijke Meerwijk zeigt dem Konzertpublikum im Anschluß an ihr Soloprogramm am 17. September 2023 in Herz Jesu Weimar die Lieder Hildegards von Bingen im faksimilierten Teil des Riesencodex (eigenes Bild).

 

Cornelie Becker-Lamers

Bach auf der Phrase herumtanzen

Ein PuLa unterwegs

Der Landesjugendchor Sachsen besteht seit 15 Jahren und hat sein Jubiläum an diesem verlängerten Wochenende durch ein Konzertprogramm an verschiedenen Orten im Land festlich begangen: in Meißen, Dresden, Leipzig und Freiberg. Unter der Leitung seines Dirigenten Ron-Dirk Entleutner, eines ehemaligen Thomaners, kamen sechs Bachmotetten zu Gehör. Als Sahnehäubchen und Besonderheit des festlichen Anlasses zuliebe waren allerdings auch drei Ausdruckstänzer(innen) engagiert worden, die die Musik durch ihre darstellende Kunst begleiteten.

Da ich schon einmal einen Beitrag über ein getanztes Magnificat von Bach im Erfurter Dom gesehen hatte,

 war ich neugierig, hielt so etwas für ein must-have-seen und machte mich gestern Nachmittag auf den Weg in die Leipziger Peterskirche.

Die Leipziger Peterskirche am 30. Oktober 2023 kurz vor dem Auftritt des Landesjugendchores um 19.30 Uhr (eigenes Bild).

Außer den Tänzern fielen auch bei den Musizierenden interessante Dinge auf: Instrumentalisten waren zwischen den Sängern plaziert, Entleutner dirigierte komplett auswendig, dafür aber umso engagierter, und die klangliche Brillanz, die textliche Präzision und die mutig langen Generalpausen machten die Musik wirklich zu einem Erlebnis. So hatte ich das „Es ist nun nichts“ aus „Jesu meine Freude“ noch nie gehört.

Aber dieser Ausdruckstanz war seltsam. In Ermangelung einer Geschichte, die man ja offenbar hätte darstellen wollen/müssen, reduzierten sich die Bewegungselemente auf eine Aneinanderreihung irgendwie bekannter Ausdruckselemente aus der Trickkiste. Da wurde mit eiskalter Miene energisch ausgeschritten, es wurde geschubst, publikumswirksam in sich zusammengesunken und zwischen den Zuhörern, ja sogar zwischen den Chorsängern Aufstellung genommen. Und das alles in bunten Kostümen von Goldpailleten über das Crop-Top bis hin zum rosa Anzug – natürlich für den Herrn.

Ausdruckstanz und Bachmotetten zum Jubiläumskonzert des sächsischen Landesjugendchores; Leipzig, Peterskirche, 30. Oktober 2023 (eigenes Bild)

Der Tanz lenkte eigentlich einfach nur von der Musik ab. Für mein Empfinden macht sogar Bild und Bewegung zu Musik letztere zur Untermalung für die Figuren: Die Motetten wurden im gestrigen Konzert zur Stummfilmmusik für den nicht vorhandenen oder zumindest sehr flachen Plot der Tanzfiguren.

Warum macht man sowas? Besonders wenn die Musik so meisterhaft dargeboten wird?

Zunächst mal ist es natürlich ein Problem, daß heutzutage Musik, die nie zum reinen Zuhören im Konzert geschrieben worden ist, über anderthalb Stunden hinweg in Konzertatmosphäre aufgeführt wird. Von der Tafelmusik bis zu geistlichen Chor- und Instrumentalwerken. Schon richtig, daß das ermüden kann – es war ja auch nie ohne weiteren Inhalt oder ohne eigene Aktivitäten der Zuhörenden gedacht.

Aber die Inhalte etwa der geistlichen Werke gäbe es ja. In Bachs Motetten beispielsweise, von denen jetzt in den sächsischen Metropolen sechs hintereinander gesungen wurden (BWV 225-230), sind Psalmen und andere Bibeltexte vermutlich für Begräbnisgottesdienste oder ein Requiem vertont worden. Die geistlichen Inhalte waren, heißt das, zuvor in einem Gottesdienst aufgefrischt worden: Was des Menschen Ziel sei, was im Jenseits auf die Verstorbenen wartet, was auf Erden zu deren und unserer eigenem Heil unternommen werden kann und warum ein moralisch integres Leben sich am Ende auszahlt.

Das wären meines Erachtens die Inhalte, die, wenn der sprachliche Kontext der Gesamtveranstaltung sie nicht liefert, ein weiteres Element wie darstellender Tanz zu verdeutlichen hätte. Das wäre dann aber richtig Arbeit: Kongenial zur Heiligen Schrift und der Vertonung durch Johann Sebastian Bach konkrete religiöse Inhalte in eine Geschichte für den Ausdruckstanz packen? – Chapeau! Aber es gelang eben auch nicht und war offenbar auch gar nicht erst angestrebt.

Für die Inhalte gibt es ja noch weniger Publikum als für die Musik, sagt meine Tochter. So ein setting soll Menschen anlocken, die denken: Tanz! Hm! Klingt interessant – und die dann nebenbei ein bißchen Bach hören und dann vielleicht auch mal einfach nur in ein Konzert mit Bachscher Musik gehen.

Ich wünsche den Konzertmanagern und jungen Künstlern alles Gute! Möge die Rechnung besser aufgehen als der Versuch, durch Gitarren und Cajón junge Menschen in die Heilige Messe zu locken …

 

Cornelie Becker-Lamers

Ezechiel und die Seuche, die keine war (Arbeitstitel)

Hier entsteht ein PuLa-Beitrag.

Der Mann auf dem Tuch…

… zu meiner Verblüffung in der Hendrichs-Ausstellung

Auf die Hendrichs-Gedächtnisausstellung hatten wir ja anläßlich ihres 100. Geburtstages am 7. Juni 2023 hingewiesen. Wir müssen aber noch einmal darüber schreiben. Denn inzwischen waren wir dort – und haben das geschnitzte Acheiropoieton entdeckt.

Das was? Das geschnitzte Acheiropoieton. 😉 Ein A-cheiro-poieton ist der griechische Ausdruck für ein nicht-Hand-gemachtes Werk, ein materialisiertes Gottesgeschenk. Als solches wird das Abbild Christi auf dem Turiner Grabtuch bezeichnet, welches auf Initiative der Malteservereinigung derzeit im Erfurter Dom zu sehen ist. Also – das Abbild des Abbildes ist zu sehen: eine fotografische Reproduktion der kostbaren Berührungsreliquie, ein Hologramm des Heiligsten Antlitzes, eine plastische Ganzkörperrekonstruktion des Herrn anhand der Informationen auf dem Tuch und jede Menge Erläuterungstafeln zu den Geheimnissen, die das Tuch seit seiner ersten Fotografie im Jahr 1898 im Verlauf etlicher wissenschaftlicher Untersuchungen preisgegeben hat.

Hologramm: Eine zum Verkauf stehende Vervielfältigung des Antlitzes Christi vom Turiner Grabtuch (eigenes Bild)

Die Malteser haben da eine sehr interessante Ausstellung erarbeitet. Ich möchte ausdrücklich auf den Internetauftritt hinweisen, der die Inhalte der Ausstellungstafeln ebenfalls wiedergibt, hier. Klicken Sie sich durch die Seite, es lohnt sich! Fotografien aus der Ausstellung macht sie hier auf PuLa überflüssig.

Aber wir wollten ja auch nicht über die Grabtuchausstellung schreiben, sondern über die Hendrichsausstellung. Sie ist sehr gut präsentiert und so manches Exponat wirkt in der Ausstellungsatmosphäre, mit der Raumhöhe der Schottenkirche und dem Licht des gotischen Chorraums völlig anders als an seinem bekannten Ort. So tut etwa dem „Schmerzensmann“ aus Erfurt, St. Severi (eigentlich ein Herz-Jesu-Altar) der zusätzliche Platz über dem Kopf ebenso gut wie die Lichtverhältnisse in Schotten und die Erhöhung der gesamten Figur: Das 1983 im Zuge einer Umsetzung der Figur ins bischöfliche Kunstdepot verbrachte Schnitzrelief, das der Altarfigur als Antependium diente, ist für die Ausstellung wieder hinzugefügt worden. Auch die präsentierten Zeichnungen, die von den künstlerischen, anatomischen und Gewand-Studien Hendrichs zeugen, lohnen Ausstellungsbesuch wie Katalogerwerb.

Umwerfend aber bereits der erste Schritt in die Kirche. Vor weinrotem Tuch, dessen Farbe auf die Passion verweist, ist der Altarraum von einem Frühwerk Hildegard Hendrichs gefüllt. Erfüllt, möchte man sagen – so prachtvoll erscheint, was am üblichen Ort, hoch über Kopf im nördlichen Querarm von St. Nikolaus Melchendorf, düster und abweisend wirkt: eine Kreuzigungsgruppe, die die Künstlerin im Alter von 25 Jahren, frisch aus der Rhön nach Erfurt in ihrer ersten, in Melchendorf gelegenen Werkstatt angekommen, 1948 schuf. Und nicht nur der Raum tut dem Schnitzaltar gut. Die Farbigkeit der Präsentation läßt auch die Schottenkirche ganz anders wirken.

Derzeitiger Blick in die Schottenkirche, in der noch bis 15. September 2023 die Gedenkausstellung für Hildegard Hendrichs zu sehen ist (eigenes Bild)

 

Eine Kreuzigungsgruppe von 1948 als zentraler Blickfang im Chorraum der Schottenkirche, sonst St. Nikolaus Melchendorf (eigenes Bild)

Haben Sie das Antlitz Christ vom Turiner Grabtuch frisch im Kopf und treten noch näher an die Figuren heran, machen Sie eine elektrisierende Entdeckung: Der Kopf gleicht dem Mann auf dem Tuch!

Der Christuskopf der Kreuzigungsgruppe gleicht dem Antlitz Christi auf dem Turiner Grabtuch (eigenes Bild)

So erging es mir am 5. Juli, als ich aus der Grabtuchausstellung, in der ich als Freundschaftsdienst insgesamt dreimal Aufsicht geschoben habe, in die Schottenkirche kam. Verblüfft tauschte ich mich mit Dr. Bornschein aus, der die Hendrichsausstellung ja konzentriert über ein Jahr hinweg vorbereitet hat. Auch ihm war die Ähnlichkeit der Physiognomien aufgefallen.

Wie kann das sein? Hildegard Hendrichs wuchs in Berlin in einer eher kirchenfernen Familie auf. In ihrer Autobiografie hält sie fest: „Zu Hause waren meine Eltern, als ich zehn Jahre alt war [also 1933], vorübergehend aus der Kirche ausgetreten und ich bekam wegen meinem Drängen, weiter in die Kirche zu gehen, große Schwierigkeiten.“ (Erlebt und Erfahren, Erfurt 1994, S.10)  Hier wird in dieser Zeit das Wissen um heilige Gegenstände und Reliquien also vermutlich nicht geschult worden sein. Auch suchte Hildegard Hendrichs eher den Aufenthalt in der Natur und auf Bauernhöfen, wenn sich ihr irgend die Gelegenheit bot, den Straßenfluchten der Großstadt zu entfliehen. Im Alter von 19 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, wählte sie daher Thüringen, genauer Empfertshausen in der Rhön, als Ausbildungsstätte für ihre Bildhauerlehre aus. Erst hier entdeckte sie, „daß man täglich zur hl. Messe gehen konnte und wieviel Kraft davon kam“ und intensivierte ihren Kirchbesuch. Auch in ihrer Kunst war der christliche Inhalt nicht von Anfang an gegeben. Den Unterrichtsinhalten entsprechend schnitzte sie Aktfiguren und wurde erst durch einen Priester auf die Idee zu Marienfiguren gebracht. In 14 Tagen Unterricht bei einem „Herrgottschnitzer“ schuf sie ihr erstes Kruzifix. Die Probleme in der Ausbildungsstätte ließen nicht auf sich warten. Christliche Kunst war verboten und „als ich zurück in die Schule kam, sie war halt nationalsozialistisch, wurde ich fast rausgeschmissen. Das Christentum hätte die Kunst verdorben, hieß es, und ich verdürbe jetzt den Geist der Schule.“ (ebd. S.12) Der Ausbildung schloß sich, dem dringenden Bedarf entsprechend, noch vor Kriegsende eine Tätigkeit als Volksschullehrerin in der Rhön an. 1948 kam Hendrichs nach Erfurt, einige Jahre vor ihrem ersten Aufenthalt in Italien, in Rom.

Kann Hendrichs neben Ausbildung und Lehrtätigkeit mit Abbildungen des Turiner Grabtuches in Berührung gekommen sein, die die frappierende Ähnlichkeit ihrer Schnitzfigur mit dem Antlitz Christi auf dem Tuch erklären können? Da persönliche Nachkommen Hendrichs‘ fehlen, sind dergleichen detailliertere persönliche Erzählungen und Hinweise der Künstlerin rar. Tatsächlich erschien 1939 im Karlsruher Badenia-Verlag unter dem Titel „Das heilige Grabtuch von Turin“ eine Kunstdruckmappe „der letzten amtlichen Lichtbilder“ von Giuseppe Enrie. 

Das brauchte es doch alles gar nicht! höre ich Sie stöhnen und sich an die Stirn schlagen: Das Grabtuch hat doch eine ganze Abbildungstradition ausgebildet! Natürlich hat sie irgendwas davon gekannt! – Das ist selbstverständlich richtig. Aber die ikonografische Tradition, die auch auf das „Schweißtuch der Veronika“ übergegangen ist, pflegt die ‘Vera icon’ in durchaus unterschiedlichen Physiognomien auszuformen. Da ist der Vollbart mal spitz, mal dreigeteilt, das Gesicht meist eher herzförmig als schmal – und vor allem: immer sind Jesu Augen offen! Wie Hans Belting festhält, war der darin enthaltene Nachweis, daß Christus sein Antlitz aktiv, persönlich und bei vollem Bewußtsein in ein Tuch gedrückt hatte, u.a. ganz wesentlich für die westkirchliche Umgehung des Abbildverbots nach dem großen abendländischen Schisma (Bild und Kult, München 1990, S.234). Christus wollte abgebildet werden – also durfte man es auch trotz seiner Doppelnatur.

Der strikt geradeaus gerichtete Kopf, der nicht auf eine Schulter herabsinkt, die geschlossenen Augen mit den stark hervortretenden Lidern, das von oben bis unten schmale, geradezu rechteckige Gesicht, der dicke Schnurrbart und der charakteristisch asymmetrisch zweigeteilte Bart, die Form der Nase – die Ähnlichkeiten des Werkes der jungen Hildegard Hendrichs mit dem Abbild des Turiner Grabtuches sind frappierend. Je länger man hinschaut, desto mehr Parallelen fallen auf. Ich mag die Vorstellung, daß die junge Künstlerin intuitiv zur richtigen Form des Heiligen Antlitzes gefunden hat.

 

Cornelie Becker-Lamers

Bildgewordene Passionsfrömmigkeit

Zur Gedenkausstellung für Hildegard Hendrichs
(7. Juni 1923 – 4. Februar 2013)

Heute jährt sich zum 100. Mal der Geburtstag der Bildhauerin des Bistums Erfurt, der gebürtigen Berlinerin und Wahl-Erfurterin Hildegard Hendrichs. Übermorgen, am Freitag, 9. Juni 2023, eröffnet das Bistum Erfurt daher eine große Gedenkausstellung zu ihren Ehren, deren 10. Todestages wir ebenfalls in diesem Jahr zu gedenken hatten. Dr. Falko Bornschein, seit Jahrzehnten der Kunstbeauftragte des Bistums und als solcher Kurator der Ausstellung, hat 70 zum Teil anläßlich der Retrospektive eigens restaurierte Kunstwerke zusammengetragen, die dann für ein Vierteljahr in St. Nicolai und Jacobi Erfurt (vulgo „Schottenkirche“) präsentiert werden. Den Weimarern aus unserem Pfarrhaus, unserem Pfarramt oder auch unserer Kirche bekannte Flachreliefs werden ebenfalls als Exponate zu sehen sein.

Blick in die Erfurter Kirche St. Nicolai und Jacobi, genannt Schotten (eigenes Bild). Rechts an der Wand hängt regulär ein Kreuzweg Hildegard Hendrichs‘ mit XV Stationen. Weitere 70 Exponate der Künstlerin werden zwischen dem 9. Juni und dem 15. September hier zu sehen sein, dazu abrufbare Audiodateien mit einer Auswahl ihrer Texte und Lieder.

Ein 288 Seiten starker, reich bebilderter wissenschaftlicher Katalog wurde beauftragt – ein wirkliches Desiderat, denn mit dem Band legt Falko Borschein die erste umfassende Publikation zu Hendrichs überhaupt vor. So viel Hendrichs auch geschaffen hat – ihre hunderte von Altären, Kruzifixen und Kreuzwegen statten Kirchen nicht nur unseres Bistums, sondern ganz Deutschlands und auch Italiens aus –, an Veröffentlichungen finden sich bisher neben wenigen Zeitungsartikeln im wesentlichen eigene Vortragstexte sowie ihre Autobiographie. Eine kritische Würdigung des umfangreichen bildkünstlerischen Werkes, in dem die Passionsfrömmigkeit der Franziskanertertiarin Figur für Figur mit Händen zu greifen ist, aber auch ihres dichterischen und musikalischen Schaffens, fehlte bislang.

Die Einladung zur Ausstellung „Kunst im Dienst der Frohen Botschaft Christi“ (eigenes Bild) Der zugehörige Katalog trägt denselben Namen wie die Retrospektive.

Hildegard Hendrichs ist nicht leicht zu fassen. Sicher ist: Sie polarisierte. Fragt man ein wenig herum, machten die Candidaten der Erfurter theologischen Fakultät und die Priester des Bistums wohl am liebsten einen Bogen um die sich ihres Verkündigungsauftrags bewußte und entsprechend fordernde Künstlerin, während künstlerisch tätige Menschen noch heute voll Bewunderung von ihrer charismatischen Art und ihrem ehrlich, aufopferungsvoll und fromm gelebten Leben sprechen. Ihre Werkstatt in der Schulze-Delitzsch-Straße mit ihrer immer offenen Tür muß – das steht wohl außer Zweifel – ein Magnet für Kinder, Jugendliche und ganze Familien gewesen sein, die den beim Arbeiten erzählten Bibel- und Heiligengeschichten der Künstlerin lauschten. Die Früchte ihrer missionarischen Ader schlugen sich in ausgegründeten Gebets- und Singkreisen nieder.

Denn Hildegard Hendrichs hat nicht nur Skulpturen geschaffen. Diese waren zwar der wesentliche, aber nicht der einzige Weg, den sich ihr innerer Drang zur Verkündigung der Frohen Botschaft brach. Ihre Vorträge brachte sie als mit Fotografien eigener Werke bebilderte meditative Texte heraus. Seit den 70er Jahren verfaßte sie dann sogar schlichte meditative Melodien und christliche Lieder zu eigenen Texten.

Hildegard Hendrichs, mit drei Geschwistern im späteren West-Teil Berlins aufgewachsen und im Zuge ihrer Bildhauerausbildung in Empfertshausen/ Rhön nach Thüringen gelangt, trat bereits als junge Erwachsene dem Dritten Orden der Franziskaner bei und traf damit eine Entscheidung, die sie zeitlebens mit intensiven spirituellen Erlebnissen beschenkte – die sie aber auch lebenspraktisch erheblich in die Pflicht nahm. Durch ihre Arbeit – ihr „Hedwigsaltar“ für ein Flüchtlingsheim in Erfurt wurde als einziges Kunstwerk der DDR 1950 bei der Arte Sacra in Rom ausgestellt – gelangte Hendrichs in den 50er Jahren nach Italien. Als der Berliner Kardinal Döpfner sie zur Rückkehr von dem von ihr zeitlebens so geliebten  La Verna in die DDR überredete, argumentierte er mit seinen Erwartungen an eine Franziskaner-Tertiarin: In der planmäßig atheistischen DDR könne sie missionarisch viel mehr bewirken.

In der Ausstellung in Schotten wird Hendrichs nun die verdiente Anerkennung zuteil. Neben den bildkünstlerischen Exponaten wurden von Erfurter Jugendlichen Lieder eingesungen, die wie ausgewählte meditative Texte der Künstlerin via QR-Code in der Ausstellung abrufbar sein werden.

 

Die Ausstellung ist bis zum 15. September 2023 in St. Nicolai und Jacobi („Schottenkirche“) Erfurt, Schottenstr. 11, zu besichtigen.

Der von Falko Bornschein herausgegebene Katalog „Kunst im Dienst der Frohen Botschaft Christi. Leben und Werk der Künstlerin Hildegard Hendrichs (1923-2013)“ ist Mitte Mai im Verlag Schnell & Steiner erschienen und kann unter der ISBN: 978-3-7954-3822-7 bestellt werden.

Meinen Beitrag in diesem Katalog, in dem ich mich mit den meditativen Texten, aber auch überhaupt mit Schrift im Werk Hildegard Hendrichs‘ beschäftige, finden Sie auch hier.

Die Kirchentür in Bernterode bei Heiligenstadt aus dem Jahr 1951 nutzt in ihrer emblematischen Anlage sehr geschickt Text und Bild zur Verkündigung der Frohbotschaft (eigenes Bild im Januar 2023)

Cornelie Becker-Lamers