Zurüruck zum Inhalt

… et quod forte custodiam (Ez 34,16)

Anmerkungen zum Rundfunkgottesdienst

Am diesjährigen Pfingstmontag übertrug der Radiosender mdr Kultur mal wieder eine Heilige Messe aus Herz Jesu Weimar als Rundfunkgottesdienst (derzeit noch in der Mediathek). Ein rundum gelungenes Ereignis! Und anders als beim letzten Mal, als die Kräfte der Gemeinde zwar angekündigt, aber nicht beschäftigt wurden, verließ man sich dieses Mal nicht mehr nur auf eine Choralschola aus Hochschulangehörigen. Nein: Der Kirchenchor sang wieder, unter der Leitung von Jakob Dietz und Bogdan Reincke.

Ein Wagnis war es vom Pfarrer ja schon: Den Rundfunkgottesdienst zuzusagen, damals, als nach der Ablehnung der Kantorenstelle niemand wußte, ob sein Chor überhaupt einen Leiter haben würde. Und natürlich war es auch wieder für die Chorleiter nicht ganz einfach, genügend Chormitglieder an diesem Tag zusammen zu bringen. Es erinnerte mich sehr an die Beteiligung von Cäcilini, Herz Jesu Finken und Jugendchor beim Erfurter Treffen der pueri cantores im Mai 2018, als Pfarrer Gothe unsere Teilnahme zugesagt, aber nicht verraten hatte, mit welchen Kindern wir uns denn eigentlich auf den Weg machen sollten. Aber da jeder Weimarer Pfarrer mit dieser Strategie immer wieder durchkommt, müssen wir uns nicht wundern, daß sie nicht irgendwann einmal überdacht wird.

Aber ich schweife ab. Das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen (es kommt nur immer mit hoch), sondern wie klug die Liedauswahl wieder war – Oberstimmen zum Gemeindegesang z.B. –, so daß der Chor einen wirklich guten Eindruck machte. Denn hören mußte ich ihn tatsächlich via Livestream des Radiosenders im Haus meiner Schwiegermutter. Zum Mitsingen hatten wir unsere Tochter entsandt. Ich hatte also den authentischen Eindruck der eigentlichen Zielgruppe.

Die Predigt beschäftigte sich mit der Lesung aus dem Epheserbrief (Eph 4,1b-6), in der Paulus die Gemeinde ermahnt „einander in Liebe zu ertragen“ (Eph 4,2b). Ich habe sehr bedauert, daß das straffe Zeitregiment, das so ein Rundfunkgottesdienst immer mit sich bringt, dem Pfarrer nur die Hälfte seiner Predigt vorzutragen erlaubte. Denn anders kann ich es mir nicht erklären, warum er den für seine Gemeinde in Weimar wesentlicheren Teil der entsprechenden Überlegungen nicht vortrug.

Die Predigt begann mit einem Zitat aus Helga Schuberts „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, in dem eine Ich-Erzählerin sehr konkret von der Pflege ihres dementen und bettlägerigen Mannes berichtet. Natürlich also nahm Pfarrer Gothe zunächst das liebende Ertragen dessen in den Blick, der schwächer ist als wir, vergeßlicher, hilfloser, älter und leidender. Die Liebe schafft es, daß die „schlechten Zeiten“, in denen man zueinander zu halten verspricht, als „gar keine schlechten Zeiten“ empfunden werden. Ein schöner, wenn auch sicherlich nicht altersunabhängiger Gedanke. Wer selber lebenssatt in ausreichend schönen eigenen Erinnerungen lebt, kann seine Tage am Bett des Ehepartners verbringen und die Ruhe der alltäglichen Wiederholungen im Ablauf der Pflege ertragen. Ertragen den, der sich nicht mehr erinnert, der nichts mehr alleine kann, der keine neuen Ideen mehr hat, den Schwächeren und auf Hilfe Angewiesenen.

Mit dem Vergessen und eigenem wie fremdem Unvermögen freilich hat die kleine Gruppe, die das Geschick unserer Pfarrei leitet, kein Problem. Was aber ist mit dem Ertragen derer, die stark sind? Die Ideen haben und sie realisieren möchten? Die sie vielleicht sogar allem Gegenwind und aller Ignoranz zum Trotz tatsächlich realisieren – wie Professor Kapsner unsere Orgel realisierte oder die Cäcilini ein neues eigenes Singspiel nach dem andern aufführten – wenn in Herz Jesu nicht geduldet, dann eben in Kloster Volkenroda oder in der großen Krippe auf dem Erfurter Adventsmarkt? Das aus den Augen Schaffen engagierter Ehrenamtlicher, das Eingehenlassen von Gruppen, das Vergessen von Unrecht und Amtsanmaßungen ist kein Problem für die Leitung von Herz Jesu Weimar (wer auch immer sie ausübt, denn auch dieser Pfarrer behauptet wieder, unter dem Druck anderer beispielsweise den Fortbestand der Cäcilini verbieten zu müssen). Wie aber sieht es aus mit dem Ertragen derer, die erinnern?

Sterbenlassen – in Herz Jesu Weimar kein Problem. Aber wie sieht es mit dem Lebenlassen aus? Vergessen – kein Problem. Aber was ist mit dem Ertragen des Erinnerns? In Liebe zu ertragen, wer hinzukommt und hier Heimat finden will – das ist nach wie vor die offenbar schier unlösbar große Aufgabe derer, die in Herz Jesu Weimar das kleine „Wir“ verkörpern.

Wie schade, daß das straffe Zeitregiment der Rundfunkgottesdienste unserem Pfarrer nicht die Möglichkeit ließ, auch hierüber zu predigen.

Cornelie Becker-Lamers

EILMELDUNG: Aufnahmen der Franz-Liszt-Gedächtnisorgel im Radio

Vor ein paar Tagen haben wir an dieser Stelle an Horst Brauner erinnert und an seinen Kampf um eine Aufnahme mit und von der Franz-Liszt-Gedächtnisorgel in unserer Pfarrkirche Herz-Jesu. Den Kampf, den er völlig überflüssiger- und empörenderweise führen mußte – und letztlich gewonnen hat! 

Zu diesem Beitrag gibt es gleich zwei hochinteressante Kommentare (hier geht es direkt dorthin) und wir behalten uns vor, vor allem den zweiten noch einmal separat zu würdigen. 

Heute aber danken wir Herrn Claus Fischer, der als Hörfunkjournalist, Moderator und Musikredakteur für die Kultur- und Informationswellen der ARD tätig ist. Er gestaltet im Programm von MDR Kultur u.a. die Sendung „Orgelmagazin“.

Und in dieser Sendung wird er morgen, Sonntag, 22. April 2023 um 22.00 Uhr einen ausführlichen Nachruf auf Horst Brauner senden. Dabei wird auch ein Werk von der Liszt-Gedächtnisorgel-CD zu hören sein, der CD mit den, soweit wir wissen, immer noch einzigen Aufnahmen dieses vielseitigen und besonderen Instruments.

Sie können die Sendung auf MDR Kultur und auf MDR Klassik hören.

Gereon Lamers 

 

„eine ungeheure seelische Leistung“

Wir trauern um Horst Brauner (26.6.1937-17.3.2023)

Wer ist Horst Brauner?

Und wer ist „wir“?

Horst Brauner war der Gründer des seit 1995 von Berlin aus tätigen JUBAL Musikverlags.

Seinem Label, das auch Chornoten des 19. und 20. Jahrhunderts editiert, verpaßte der rührige Ur-(West-)Berliner allerdings, den eigenen Neigungen entsprechend, einen Arbeitsschwerpunkt in einer der Orgelmusik gewidmeten CD-Produktion. Dieses persönliche wie professionelle Interesse brachte es mit sich, daß Horst Brauner bald im orgelreichen Thüringen ebenso zuhause war wie in Berlin.

Für seine Einspielungen und Konzertmitschnitte graste er nicht nur die großen Städte ab. In den nicht nur unter geographischen Gesichtspunkten, sondern auch nach Orgelbauern zusammengestellten Hörerlebnissen verschaffte er sich Zugang zur Sauer-Orgel im Berliner Dom und zu den Orgeln etwa in Meiningen, Sondershausen, Sangerhausen, Gotha und Leipzig. Er begab sich aber etwa auf den Spuren der „Rommel-Orgeln in der Thüringer Rhön“ auch in Dorf- und Stadtkirchen wie die von Kaltenlengsfeld, Geba, Herpf, Wohlmuthausen und Zella-Mehlis. So ist es selbstverständlich, daß er Kontakt zu sehr sehr vielen Organisten knüpfte und aufrechterhielt. Als 2019 ruchbar wurde, daß die historische Hesse-Orgel in Goldbach im Zuge einer Kirchenmodernisierung abgebaut und eingelagert werden sollte, machte er all seinen Einfluß geltend, um beim Erhalt des historischen Zustands hilfreich zu sein. Die CD „Hesse-Orgeln in Thüringen“ mit Einspielungen aus Holzhausen, Möbisburg, Schwerstedt, Seebergen und Wahlwinkel legte er noch im Februar 2020 vor. 

Natürlich erfuhr Horst Brauner beizeiten, daß in Weimar zum 200. Liszt-Geburtstag im Jahr 2011 große Dinge in Bewegung gebracht wurden. Der Professor für Orgel und Improvisation an der nach dem Komponisten benannten Weimarer Hochschule für Musik – ein gewisser Michael Kapsner – hatte angesichts der Tatsache, daß Liszt nicht nur ein lange Jahre (1843-61) in Weimar ansässiger Dirigent, Pianist und Komponist, sondern in dieser Zeit auch aktives Mitglied der damals winzigen katholischen Pfarrei Weimar war, eine Idee, die für die nunmehr erstarkte Pfarrgemeinde wie für die Hochschule nach menschlichem Ermessen nur zu einer gigantischen win-win-Situation werden konnte: Eine neue, als Übeinstrument ohnehin benötigte Hochschulorgel könnte in die Herz-Jesu-Kirche eingebaut werden, um den Kontakt zwischen Hochschule und Gemeinde zu stärken und den Gottesdienstbesuchern zugleich als liturgisches Instrument zur Verfügung zu stehen. Liszts liturgische Kompositionen könnten so durch den Professor selber wie durch Studierende in ausgewählten Messen wieder lebendig gemacht werden, Konzerte würden Menschen in die Kirche lotsen und der Kirchenraum wie auch der Glaube, für den er steht, würde im Bewußtsein nicht nur der Stadtbewohner zu einer gewichtigeren Größe werden. Nach langen Gesprächen mit dem begeisterten Pfarrer beschaffte Michael Kapsner eine knappe Million Euro aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft, konzipierte die „Franz-Liszt-Gedächtnis-Orgel“ und betreute den Bau durch die Orgelbaufirma Waltershausen. Die Idee war so herzerwärmend gut und richtig, wie sie zukunftsweisend und der Ausübung der katholischen Religion in Weimar (und darüber hinaus) förderlich war.

Wie PuLa-Leser wissen, ist sie dennoch hintertrieben worden. Nicht von den Gläubigen. Aber von einer damals alleinherrschenden stellvertretenden Vorsitzenden des Kirchenvorstands, die immer im Namen der ganzen Pfarrei auftrat (und vom eigentlichen Vorsitzenden, dem Pfarrer, gelassen wurde) und die, kaum daß die Orgel eingebaut war und das Gotteshaus baulich (durch mit dem Orgelneubau begründete umfassende Renovierungen) profitiert hatte, die Regeln so festlegte, daß aus der überregional und weit in die Zukunft hinein gedachten win-win-Situation für die Kunst wie für die katholische Glaubenswelt der kleine Prestigegewinn des „Dorfclans“ (Maria Widl) wurde, der die katholische Pfarrei Weimar bis heute dominiert. Win-win-Situationen waren ihr nicht vorstellbar. Diese Frau wollte, daß sie alleine gewinnt – oder niemand.

So kam es, daß auch dem von Horst Brauner ins Auge gefaßten CD-Projekt mit der neuen Franz-Liszt-Gedächtnis-Orgel Steine in den Weg gelegt wurden. Auf Anfrage von JUBAL setzte das o.g. Kirchenvorstandsmitglied mit schlanker Hand für die Einspielung eine Raumnutzungsgebühr von 9000,- (in Worten neuntausend) Euro pro Tag fest – bei einem täglichen Zeitfenster für die Nutzung von 17.00-22.00 Uhr. Da für eine Einspielung drei Aufnahmetage zu veranschlagen sind, hätte die CD-Produktion, noch bevor sie begonnen hätte, Kosten in Höhe von 27.000 Euro verursacht – eine Summe, die praktisch nicht refinanzierbar ist.

Soviel Unverschämtheit trieb den kommunikationsfreudigen, aber auch ergebnisorientierten Musikmanager Brauner um. Üblich waren, Brauners Aussagen zufolge, für eine CD-Produktion finanzielle Forderungen der Gemeinden in Höhe von wenigen hundert Euro – wenn die Pfarreien nicht, wie er sagte, überhaupt froh waren, daß man ihre Orgel auf CD herausbrachte. (Was ja auch Herz Jesu Weimar bis heute sein könnte – aber nach wie vor nicht ist.) Die sich seit 2011 manifestierende mangelnde Kooperationsbereitschaft des hiesigen Kirchenvorstands wurmte Brauner. Es mußte doch möglich sein, in Weimar eine CD zu produzieren. Im Direktkontakt bereits ‚verbrannt‘, verlegte sich Horst Brauner nach drei Jahren fruchtlosen Bemühens auf eine List. Die Eitelkeit der Verantwortlichen, die jede Kooperation so unangenehm gestaltete, machte er sich kurzerhand zunutze und brachte den Live-Mitschnitt eines Orgelkonzertes vom 10. August 2014 heraus, das aufgrund des schicken Schlagwortes „Produktion der BBC“ an den usurpierten Schalthebeln der Macht in Herz Jesu Weimar durchgewunken worden war. Die entstandene CD ist m.W. nach wie vor die einzige, die von Kapsners großer und großartiger Orgel existiert.

Die trickreich eingespielte bisher einzige CD auf der von Michael Kapsner konzipierten und finanziell ermöglichten Franz-Liszt-Gedächtnisorgel der Musikhochschule Weimar in der katholischen Pfarrkirche Herz Jesu (Bildquelle mitsamt Booklet hier)

Die Vervollständigung seines CD-Portfolios reichte dem rechtschaffenen Horst Brauner allerdings nicht aus. Er wollte die skandalösen Zustände aufgeklärt und aufgearbeitet wissen und suchte nach Mitstreitern, die möglicherweise bereits am selben Strick zogen. Bei seinen Recherchen ist er dann sehr schnell auf PuLa gestoßen. Tatsächlich ist dieser Blog ja aufgrund des Umgangs mit Prof. Kapsner online gegangen: Der Skandal um die Orgelnutzung war der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen gebracht hatte. An unseren Beiträgen, vor allem den Sketchen, hatte Horst Brauner zweifelsfrei ablesen können, daß er nicht der einzige Leidtragende der hiesigen Situation war. Und so ging bei der Redaktionsadresse unseres Blogs am 2. Juni 2015 die erste Email von Horst Brauner ein, in der er uns zunächst auf den Konzertmitschnitt aufmerksam machte. Ein sich rasch intensivierender Kontakt förderte bald zutage, daß auch wir am Ball bleiben würden, und so erhielten wir am 29. Juni 2015 eine Email mit etlichen vertraulichen Anhängen, die den gescheiterten Versuch einer Zusammenarbeit von JUBAL unterstützt von Organisten, von der Hochschule selber und von Orgelbau Waltershausen mit dem damaligen Kirchenvorstand (immer alleinvertreten durch seine stellvertretende Vorsitzende) von Herz Jesu Weimar dokumentieren. Die unverschämten Geldforderungen (die in Konzertraummieten vor Ort längst ihre Parallele hatten) bat uns Horst Brauner ausdrücklich publik zu machen.

Wir entschieden uns im Sommer 2015 zunächst dagegen. Sie erinnern sich: Der damalige Pfarrer hatte seine dringend erforderliche Abberufung durch den seit November 2014 im Amt befindlichen neuen Bischof via Lokalpresse (Torsten Büker in der TLZ) als enttäuschten Weggang eines gemobbten Gemeindelieblings mit Aplomb öffentlich gemacht und der Rufmord an Gereon und mir in der Presse setzte ein. Eine weitere Publikation zu handfesten Verfehlungen in der Gemeindeleitung hätten wir zum damaligen Zeitpunkt als „Nachkarten“ empfunden und wollten die Aufarbeitung dem neuen, uns damals bereits bekannten Pfarrer überlassen.

Leider ging der neue Pfarrer in Richtung Aufarbeitung nicht einen einzigen Schritt. Nicht einmal in Form einer Gemeindeversammlung. Damals nicht, und bis heute nicht, wo seit einem Jahr – nicht dank innerkirchlicher Aufarbeitung, aber dank staatlicher Ermittlungen – deutlich geworden ist, wie richtig alle lagen, die hinter den eigentümlichen Machtverhältnissen in Herz Jesu Weimar zwischen 2005 und 2015 eine Möglichkeit vermuteten, den Ortsgeistlichen unter Druck zu setzen.

Als ich zum neunten Geburtstag der Orgelweihe in Herz Jesu die Reihe zur Geschichte des Instruments und seiner organisierten Ignorierung begann, war natürlich auch ein Beitrag zur Franz-Liszt-Gedächtnisorgel und den Finanzen vorgesehen. Ich habe damals erneut mit Horst Brauner telefoniert und erfahren, daß er nach wie vor an einer Publikation auch seiner Erlebnisse interessiert war. Leider habe ich den Beitrag seelisch und/oder zeitlich nicht geschafft. Ich möchte seinem Wunsch nach Aufarbeitung aber wenigstens nun, in diesem Nachruf, entsprechen.

Horst Brauner schüttelte bis zuletzt den Kopf über die Tatsache, daß nicht einmal die Franz-Liszt-Gesellschaft Weimar Notiz von der Orgel nimmt. Zu Wettbewerbszwecken wird sie nicht genutzt. Zu Konzerten des Thüringer Orgelsommers reist jährlich ein auswärtiger Organist an, während der Nachfolger auf der Kapsner-Professur mit seinen Studierenden in der Stadtkirche den Weimarer Orgelsommer bespielt und nicht einmal Bischofsmessen orgelt. Das Gift, das seitens unserer eigenen  Kirchenvorstandsvertretung zwischen 2011 und 2015 hier um die Hochschulorgel und das gesamte große Projekt versprüht wurde, läßt noch immer keine Luft zum Atmen.

Horst Brauner hat sich Aufarbeitung und Kommunikation, hat sich das Leben und die Förderung der christlichen Religion in der Aktualisierung kultureller Glaubenszeugnisse immer gewünscht. Wir haben einen zuletzt nicht mehr so häufig, aber wenn, dann mit Gewinn kontaktierten Gesprächspartner verloren, der 2015 angesichts unserer Arbeit auf PuLa als einziger die richtigen, ganz sachlich und unpathetisch vorgebrachten Worte fand: „Da haben Sie, von allem andern abgesehen, in den letzten vier Jahren eine ungeheure seelische Leistung vollbracht.“ So ist es.

Wir trauern um Horst Brauner. Und tatsächlich wüßte ich selber gern, wer zu diesem „wir“ noch alles dazugehört.

 

Cornelie Becker-Lamers

Die Wahrheit kennt keine Zeit

Krippe und Kreuz

Das Vexilla Regis, das eng mit unserem vorigen Beitrag verbunden ist, war übrigens auch der Ausgangspunkt einer intensiven Diskussion und in der Folge einer ganzen Reihe von Beobachtungen zum Thema „Krippe und Kreuz“, von denen ich jetzt in der Karwoche erzählen möchte. Genau genommen ging es um das aus dem Vexilla Regis von Komponisten bereits verschiedentlich ausgekoppelte O Crux Ave, das der Philharmonische Chor Weimar in einer erst zwanzig Jahre alten Vertonung des 1964 in Riga geborenen Rihards Dubra u.a. bei einem Weihnachtskonzert am 7. Januar 2023 in der Herz Jesu Kirche Weimar zu Gehör brachte. Es klingt so:

Der Philharmonische Chor Weimar bei seinem Weihnachtskonzert mit Kerzenschein in der Herz Jesu Kirche (Bild: Gereon Lamers)

Der Chor, dem ich seit drei Jahren angehöre, konnte das Stück für eine andere Gelegenheit gut brauchen und hatte es einstudiert. Ob es aber auch für ein Weihnachtskonzert passend wäre? Es stellte sich nach einigen Gesprächen, Recherchen und Überlegungen heraus: Ja. Ist es.

Treue PuLa-Leser wissen, daß ich vor sieben Jahren in einem Sketch einmal gegen die These angeschrieben habe, die den Choral „Wie soll ich dich empfangen“ aus Bachs Weihnachtsoratorium (WO) mit dem Passionslied „O Haupt voll Blut und Wunden“ kurzschließt. Der Erfurter Bistumsanhang im alten Gotteslob (vor 2013) apostrophierte diesen Zusammenhang in einer Fußnote zu Lied 903. In der Tat sind diese beiden Stücke nicht Mutter und Kind, sondern Geschwister. Beide gehen auf eine ältere Melodie (um 1600) von Hans Leo Haßler zurück.

Dennoch wird der Heilsplan offenbar als immer in Gänze präsent gedacht. Die Wahrheit kennt keine Zeit. Sie ist immer da, und sie ist immer ganz. So wird denn auch Paul Gerhardts um 1650 entstandener Text, dessen erste Strophe Johann Sebastian Bach in den ersten Teil seines Weihnachtsoratoriums integriert hat, in der zweiten Strophe auf Jesu Einzug in Jerusalem bezogen: „Dein Zion streut dir Palmen“.

In Friedrich Heinrich Rankes „Tochter Zion“ wird zu Georg Friedrich Händels Musik ebenfalls ein Text zum Adventslied, dessen biblischer Vorlage wir zu Palmsonntag gedenken (vgl. Mt 21,5.9). Die Heilsbotschaften vor der Geburt des Herrn und vor Beginn der Karwoche werden austauschbar.

Der Kreuzeshymnus Pange Linguavon Venantius Fortunatus, der wie sein Vexilla Regis auf das Jahr 569 datiert wird und mit der Schenkung einer Kreuzesreliquie an die (thüringische Prinzessin und) fränkische Königin und Klostergründerin Radegunde zusammenhängt, enthält als fünfte Strophe ein Stück Weihnachtsgeschichte: 

Vagit infans inter arta conditus praesaepia,
Membra pannis involuta virgo mater adligat,
Et pedes manusque, crura stricta pingit fascia.

„Er schreit als Kind, geborgen in der engen Krippe,
die Glieder, in Windeln gehüllt, verbindet die jungfräuliche Mutter,
und Füße, Hände, Beine zeichnet die straffe Binde.“

Der Jesusknabe kommt in bildlichen Darstellungen der Verkündigung mit einem Kreuz auf der Schulter in den Schoß seiner Mutter geschwebt (Bilder bereits hier). Und in der Baßarie des WO I, „Großer Herr, o starker König“ vertont Bach die Worte „muß in harten Krippen schlafen“ dergestalt mit einem verminderten Akkord, daß die Melodie das Kreuz als sogenannte ‚musikalisch-rhetorische Figur‘ förmlich abbildet.

Auch Künstler des 20. Jahrhunderts trennen Krippe und Kreuz nicht. Im „Weihnachtskyrie dichtet der von seiner Bedeutung für das evangelische Kirchenlied her gern mit Paul Gerhardt verglichene Jochen Klepper (1903-1942): „Die Welt ist heut voll Freudenhall./ Du aber liegst im armen Stall./ Dein Urteilsspruch ist längst gefällt,/ das Kreuz ist dir schon aufgestellt./ Kyrie eleison.“

Als Hildegard Hendrichs (1923-2013), die vermutlich bedeutendste Bildende Künstlerin unseres Bistums und Franziskaner-Tertiarin, von den geistlichen Brüdern um ein Wandrelief für das Kloster in La Verna gebeten wurde, fiel ihr das Thema gleichsam in den Schoß: „Es ergab sich mir aus der gerade erlebten Pilgerfahrt und den so wichtigen Meditationen in Greccio und La Verna: Krippe und Kreuz.“ (So in ihrer Autobiographie „Erlebt und erfahren“ Münsterschwarzach 1994, S. 76).

Hendrichs 2 x 6 m großes Wandrelief in der Aula St. Klara auf La Verna (1954-56) (eigenes Bild aus Hendrichs Publikation „Weg der Liebe zur vollkommenen Freude“ Würzburg o.J.)

Im Marcel-Callo-Haus Heiligenstadt durften Gereon und ich am 8. Januar dieses Jahres an einem Gehörlosengottesdienst teilnehmen, den Pfarrer Haase abhielt. Hörend, waren wir fasziniert über die Armbewegungen, mit denen er seine Worte begleitete. Und wir merkten, welche Gesten er für welche Worte gebrauchte. Das Christkind stellte er mit dem Hinweis auf durchbohrte Hände dar. Weihnachten symbolisierte er durch die Krippe. Dazu formte er mit seinen Armen vor der Brust ein Kreuz.

 

Cornelie Becker-Lamers

Gregorianik, spätromantisch

Kirchenchor singt Franz Liszts Vexilla-Regis-Adaption
in der Passionsandacht

Die Ausführenden

Wie Sie sicherlich wissen, probt unser Kirchenchor seit dem Advent 2022 endlich wieder und hat bereits eine feierliche Christmette musikalisch mitbestimmt. Zu verdanken ist das unserem neuen Chorleiter, einem in der Pfarrei durch unendlich viele Orgeldienste bereits bestens bekannten Kirchenmusikstudenten im Masterstudiengang: Jakob Schönborn-Dietz. Auch ich persönlich bin ihm bekanntlich zu Dank verpflichtet, seit er zum Besuch der Oberhauser Klosterspatzen die Uraufführung unseres Mariä-Himmelfahrtsliedes in der gemeinsamen Abendmesse am Klavier begleitet hat. 🙂

Herr Dietz also hat die Chorleitung in Herz Jesu übernommen und macht durch seine kluge Literaturauswahl berühmte Musik großer Namen auch mit diesem sich erst wieder findenden Kirchenchor möglich: In der Passionsandacht am morgigen 1. April 2023 um 18 Uhr erklingt Franz Liszts bekanntes Werk „Via Crucis“. Die Komposition (in diesem Fall im Wortsinne von „Zusammenstellung“) entstand im Frühherbst 1878 in Rom. Vollendet wurde sie ein Vierteljahr später in Budapest.

Ach! Da fällt mir ein: Ich muß Ihnen ja unseren zweiten Chorleiter noch vorstellen. Auch in der neuen Besetzung ist unser Kirchenchor nämlich leider wieder auf das ehrenamtliche Engagement in der Chorleitung angewiesen (warum das zwar so ist, aber durchaus nicht sein müßte, schreiben wir Ihnen ein andermal). Da junge Familien aber von irgend etwas leben müssen, bringt Herr Dietz derzeit sein Ehrenamt in Weimar mit einer vertretungsweise angenommenen bezahlten Kantorenstelle andernorts unter einen Hut. Er schafft das, weil er einen Kommilitonen hinzuziehen konnte: Herrn Bogdan Reincke. Abwechselnd leiten beide jungen Männer die Proben oder teilen in Registerproben den Chor auch schon mal auf. Ob Herr Dietz oder Herr Reincke – einen Korrepetitor hat unser Kirchenchor nun ständig, denn die erfahrenen Organisten spielen eine Klavierbegleitung notfalls aus der Chorpartitur und notfalls ohne hinzuschauen, Gesicht und Aufmerksamkeit dem Chor, ihre Arme aber im rechten Winkel dem E-Piano des Elisabethsaals zugewandt! 🙂

Liszts „Via Crucis“ ist ein Werk für Soli, Chor und – Harmonium.

Harmooooonium? Warum um alles in der Welt Harmonium?

Tja – weil Liszt selber das so vorgesehen hat. Den Erzählungen unseres Chorleiters zufolge stand Franz Liszt während des Romaufenthalts Ende 1878 eines schönen Tages im Kolosseum und in seinem geistigen Ohr erklang seine Adaption der gregorianischen Gesänge Vexilla Regis und Stabat Mater an genau diesem Ort – begleitet von einem Harmonium. Gut. Er hat ja auch in Weimar, dem es damals bekanntlich seit gut 300 Jahren einer katholischen Kirche ermangelte, im Jägerhaus in der Marienstraße Harmonium gespielt.

Aber wo um alles in der Welt bekommt man heute ein Harmonium her?

Herr Dietz hat eins besorgt. Sogar ein zu Liszts Musik zeitgenössisches – einen Schiedmayer aus den 1870er Jahren, schauen Sie:

Das Schiedmayer-Harmonium aus einer Privatsammlung; nach der Probe am 25. März 2023 in Herz Jesu Weimar (eigenes Bild)

Ein ehemaliger Professor der Weimarer Musikhochschule, auch er der Pfarrei Herz Jesu durch langjähriges Orgelspiel eng verbunden, hat in einem Dorf nördlich von Weimar eine Sammlung solcher Instrumente zusammengetragen. So kann der Kirchenchor also auch noch historisch informiert musizieren! Als Solisten wird unser Chor eigene Kräfte durch Hochschulabsolventen ergänzen.

 

Das Werk

Liszts Via Crucis paßt gleich doppelt gut nach Thüringen. Zum einen, weil Liszt lange in Weimar als unser Gemeindemitglied gelebt und bekanntlich unser Gotteshaus ‚gefundraised‘ hat. Zum andern, weil der Verfasser des Vexilla Regis ja niemand anders ist als Venantius Fortunatus, der enge Vertraute Radegundes, der letzten Prinzessin des Thüringerreiches und späteren fränkischen Königin und Klostergründerin. Da sie möglicherweise von der Mühlburg oberhalb von Mühlberg bei Arnstadt stammt, ist in der dortigen St. Lukaskirche eine Radegunden-Kapelle eingerichtet worden. Im Vorraum werden die Besucher an den berühmten Hymnus erinnert:

Am Eingang zur Radegundiskapelle im Vorraum von St. Lukas Mühlberg (eigenes Bild)

Aber warum habe ich vorhin die Komposition Franz Liszts als Zusammenstellung apostrophiert? Weil sie es ist. Das Werk wirkt so redundant weil es immer wieder im Verlauf der musikalisch erfaßten 14 Stationen der Passion Jesu sehr konsequent auf die gregorianische Melodie der vertonten Texte des Vexilla Regis und des Stabat Mater zurückgreift. Hören und schauen Sie:

Einleitung und erstes Stabat Mater aus der Chorpartitur der Via Crucis von Franz Liszt (eigene Bilder)

Es ist die jahrhundertealte Melodie des Vexilla Regis:

beziehungsweise des Stabat Mater:

Dazwischen stellt Liszt den Crügerschen Choral O Haupt voll Blut und Wunden und die Vertonung des Friedrich-von-Spee-Textes, O Traurigkeit, o Herzeleid, deren Herkunft aus Mainz oder Würzburg auf 1628 oder 1638 datiert wird.

Ich bin begeistert von der Realisierung einer in Herz Jesu Weimar ja schon älteren Idee: Werke unseres verdienstvollen ehemaligen Gemeindemitglieds Liszt tatsächlich in Messen und Andachten in unserer Kirche zu Gehör zu bringen. Es wird schön und die Chorleiter haben sich alle erdenkliche Mühe für eine gute und korrekte Interpretation des Werkes gegeben. Pfarrer Preis wird die Andacht halten. Und ein von Herrn Dietz liebevoll gestaltetes Plakat gibt es auch:

 

Kommen Sie zahlreich!

 

Cornelie Becker-Lamers

 

PS: Ein Schiedmayer! Die Firma Schiedmayer war ja bekanntlich die prestigeträchtigste unter den ehemals zahlreichen Fabriken für Tasteninstrumente, die es in Stuttgart gab, eine Tradition, für die erst die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs ein trauriges Ende brachten.
Die Produktion von Harmonien (oder doch Harmonia? 😉 ) war freilich ein eher späteres Phänomen, begründet wurde dieser Ruf mit dem Bau von Hammerklavieren, nicht zuletzt in der Form von Tafelklavieren, den der Firmengründer bei Mozarts bevorzugtem Pianofortehersteller Stein in Augsburg gelernt hatte. Stein seinerseits aber hatte bei niemand geringerem als Cristofori gelernt, der 1699 die Hammerklaviermechanik ja überhaupt erst erfunden hatte.
Begegnen Sie also morgen abend dem Harmonium mit Respekt, es ist Vertreter einer wahrhaft noblen Tradition des Instrumentenbaus! 🙂 

Gereon Lamers

Das verkannte Datum

Zufälle gibt es … Da spricht der unschätzbare Kommentar in Dantes Göttlicher Komödie zu den Versen 34-39 des XVI. Gesanges im „Paradiso“ vom Jahresbeginn im mittelalterlichen Florenz, und er tut dies ausgerechnet auf Seite 365 des dritten Buches der kommentierten Neuübersetzung dieses Jahrtausendwerkes – also auf einer Seite, deren Zahl man unweigerlich mit dem Sonnenjahr in Verbindung bringt.

Definitiv kein Zufall ist, daß dieser Jahresbeginn am 25. März – Mariä Verkündigung – gefeiert wurde: „die Florentiner zählten im übrigen die Jahre vom Tag der Inkarnation an, dem 25. März, der hier [in den Versen von Dantes epischem Gedicht] als der Tag der Verkündigung nach Lk 1,28 umschrieben wird“, schreibt Hartmut Köhler.

Man stößt immer wieder auf die Relevanz dieses Datums über die „neun Monate vor Weihnachten“ hinaus. In seinem Marienbuch trägt Klaus Schreiner im Kapitel „An welchem Tag und zu welcher Stunde kam der Engel“ Beispiele zusammen für das „Bemühen, die großen Heilstaten Gottes an ein und demselben Tag [nämlich dem 25. März] stattfinden zu lassen“. Hans Förster belegt in seinem Weihnachtsbuch die Berechnung des Verkündigungsdatums aus den Schilderungen der Bibel. Wir haben das alles auf PuLa schon wiederholt zitiert (vgl. hier, hier und hier.

Und wir haben wiederholt beklagt – auf PuLa wie in Diskussionen nach Vortragsveranstaltungen zum Thema –, daß der katholische Festkalender diesem Datum wenig bis gar keinen Raum zum Feiern läßt.

Stellen Sie sich vor, Sie gehen am 25. Dezember in die Kirche. Es ist eine gewöhnliche Vorabendmesse und die einzige Messe des Tages. Nicht der Ortsgeistliche zelebriert, sondern ein Pfarrvikar im Ruhestand. Gelesen werden die Perikopen des folgenden Sonntags und die Predigt beschäftigt sich mit Tod und Auferstehung. Vor dem Schlußsegen weist der Zelebrant in einem Nebensatz auf das Weihnachtsdatum hin, um die Wahl des Schlußliedes „Stille Nacht“ zu erläutern.

Kann man sich nicht vorstellen, schon klar. Heute ist es in Herz Jesu Weimar mit dem Fest Erster Klasse, dem Hochfest Verkündigung des Herrn, so geschehen. Nachdem im letzten Jahr, das haben wir auf PuLa festgehalten an einem Freitag vor- und nachmittags Messen zu Mariä Verkündigung stattfanden (und die Kreuzwegandachten auch wieder auf den Freitagen lagen), hat man offenbar dieses Jahr keine Lust, läßt das Hochfest ausfallen (und die Kreuzwegandachten an den Sonntagen begehen. Das hatten wir 2019 schon einmal – es funktioniert stimmungsmäßig überhaupt nicht, zumal die Koppelung an eine Abendmesse: 17 Uhr Kreuzwegandacht, 18 Uhr Messe. Ich hatte wirklich gehofft, diese Experimente seien durch).

Wenn man die weitestgehende Ignoranz evangelischer Christen dem Fest Mariä Verkündigung gegenüber hinzunimmt (obwohl Luther es noch als relevant apostrophiert hatte), muß man zu dem Schluß kommen: Die Inkarnation des Herrn – dessen Herabkunft auf die Erde und der Beschluß des Heilsplans – ist hierzulande das verkannteste Fest des Christentums. Die Feiern bleiben aus, es gibt keine Rituale für das Fest, keine Ideen für einen zeitgebundenen heimischen Wohnungsschmuck, kein passendes, wie auch immer fastenverträglich gestaltetes Festtagsgebäck (ohne Schokoguß 😉 ) und keine volkstümlichen Lieder außerhalb des „Gotteslobs“. Zu Weihnachten ist der Jesusknabe dann plötzlich da.

Nur die Bildkünstlerische Darstellung seiner Verkündigung hört bis heute nicht auf.

Mariä Verkündigung, Diptychon in der katholischen Pfarrkirche St. Norbert Merseburg (eigenes Bild)

Cornelie Becker-Lamers

 

Zitatnachweise:

Dante Alighieri, La Commedia. Die Göttliche Komödie. III. Paradiso/ Paradies. Italienisch/ Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler, Stuttgart: Reclam 2021, S. 365, Anm.

Klaus Schreiner, Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, Köln: Anaconda 2006, S. 35.

Hans Förster, Weihnachten. Eine Spurensuche, Berlin: Kadmos.

PS: Daß somit eine Kreuzwegandacht am 19. März, also ausgerechnet am Sonntag Laetare, dem milde freudigen “Bergfest” der Fastenzeit stattfand, ist ein sprechendes Detail. 

Kreuzweg – nicht: Kreuzgang!

Mißverständnisse über einen Vortragstitel

Als ich im vergangenen Wintersemester erstmals im Rahmen der Erwachsenenbildung eine „Weltreise durchs Kirchenjahr“ angeboten habe, fiel mir auf, wie unglaublich vielfältig Kreuzwege gestaltet sind. Von ganz klassischer Malerei und Massenszenen bis zur Reduktion auf einen Stolperstein. Da ich mit der Vortragszeit ohnehin kaum rumkam – denn es ist wie immer: je tiefer man in die Materie einsteigt, desto mehr findet man, was unbedingt zum Thema gehört –, da ich also mit der Zeit haushalten mußte, habe ich zwar die Passion besprochen, aber nicht eigens die Vielfältigkeit von Kreuzwegsdarstellungen ausgebreitet. Sondern das Thema für einen gesonderten Vortrag ausgekoppelt. Und der findet in einem Monat statt, aber man kann sich schon anmelden. Das muß man bei diesem Veranstalter auch für Vorträge. Deswegen sage ich es.

Um das Thema auch für Nicht-Christen anschlußfähig zu machen, habe ich mir einen schönen Titel für die Veranstaltung ausgedacht, nämlich:

Grenzsituationen künstlerisch beleuchtet – Kreuzwege

Di, 28. März 2023, 19.00 – 20.30 Uhr

Haupthaus der Volkshochschule Weimar
Graben 6
Raum 304 (es gibt einen Fahrstuhl).

 

Merseburg, St. Norbert, Station I (eigenes Bild)

Es ist ja schon interessant zu sehen, wann diese Sache überhaupt aufkam. Liegt zum Beispiel auf dem Dachboden der Weimarer Stadtkirche noch irgendwo ein Päckchen mit den 14 Stationen, weil die Protestanten sie abgehängt haben? Oder war sie schon reformiert, als man hierzulande die Kreuzwege einführte und hatte nie einen? Und wer hat das überhaupt betrieben, die Passionsfrömmigkeit? Und was gibt es außer den kleinen Kreuzwegen in unseren Kirchen noch alles?

Und es ist interessant, nochmal genau nachzulesen, was in welchem der Evangelien nun wirklich steht, wie das ist mit der Hilfe durch Simon von Cyrene, und was alles legendär hinzugetan wurde und nun seinerseits auf Jahrhunderte der kunstgeschichtlichen Darstellung zurückblicken kann.

Und die Musik, die es dazu gibt! (Ach ja – nebenbei: Vier Tage später, am 1. April, singt unser Kirchenchor unter neuer Leitung, nämlich Jakob Schönborn-Dietz, die „Via Crucis“ von Franz Liszt in einer Andacht in Herz-Jesu. Wir kommen derzeit so wenig zum Schreiben, daß ich es mal lieber hier schon mit ankündige)

Und dann natürlich die vielfältige Ausgestaltung über die Jahrhunderte! Bei der Durchsicht meiner Fotos fiel mir auf, wie oft ich bereits Kreuzwege fotografiert habe. Über die eine oder andere Sache haben wir ja auch schon berichtet.

Seit einigen Monaten bin ich richtiggehend auf der Suche nach neuen Interpretationen der immer gleichen Stationen – und habe schon wieder einiges entdeckt.

Siegburg, Krankenhauskapelle des Heliosklinikums; Stationen III, VII und IX: Jesus fällt unter dem Kreuz (eigene Bilder)

 Aber Moment mal – die immer gleichen Stationen? Bereits die Erfurter Severikirche überraschte mich mit einer unerwarteten XV. Station. Von den in Kupfer getriebenen Kreuzwegen Hildegard Hendrichs‘ (1923-2013), einer Bildhauerin des Bistums Erfurt, derer ab dem Sommer in einer großen Ausstellung in der Schottenkirche Erfurt gedacht werden wird, ganz zu schweigen … 

Es wird spannend und schön! Kommen Sie zahlreich! Ich würde mich freuen, Sie zu sehen!

Cornelie Becker-Lamers

“Ich glaube” – Ein Bücherfund in Mühlhausen 

Zugleich ein klitzekleines “PuLa-unterwegs”
und ein ‘Save the date’

Neulich waren wir u.a. in Mühlhausen unterwegs, weil Cornelie das Kruzifix von Hildegard Hendrichsdas dort in St. Josefder katholischen Pfarrkirche, hängt, anschauen mußte für einen Beitrag in dem Katalog zur Jubiläumsausstellung, die das Bistum anläßlich des 100. Geburtstags und des 10. Todestags der Künstlerin organisiert. Wer daran interessiert ist: Am 9. Juni findet in der Erfurter Schottenkirche die Eröffnung der großen Jubiläumsausstellung mit der Vorstellung des Katalogs statt; PuLa wird zu gegebener Zeit noch einmal daran erinnern!  

Während Cornelie dort also ihrer Arbeit nachging, das Kunstwerk in Augenschein zu nehmen und zu fotografieren, stieß ich im Vorraum der Kirche auf eine Art Büchertisch, wie er ja momentan jedenfalls hierzulande, wo man gute Sachen nicht einfach wegwirft, häufiger zu finden ist: Da werden nämlich jetzt die Bücher, die katholische Thüringerinnen und Thüringer im Laufe ihres Lebens in der DDR angeschafft haben, von ihnen selbst oder ihren Kindern an die Pfarreien abgegeben, weil unter neuen Lebensumständen kein Platz mehr ist – oder das Leben zu ende ging. 

Und ich finde das immer ebenso anrührend wie einfach interessant und würde am liebsten allen diesen Büchern für eine Weile eine Heimstatt bieten, nur daß Cornelie mich zurecht regelmäßig daran erinnert, daß wir schon das ein oder andere Buch haben und Regalplatz endlich ist… 😉 

Ein paar schaffen es aber immer, und so auch welche aus Mühlhausen. Eines möchte ich Ihnen heute vorstellen:

Joseph Kardinal Ratzinger, “Ich glaube“, Strukturen des Christlichen, Leipzig (St. Benno) 1979 (eigenes Bild)

Nun bietet diese Lizenzausgabe (“Nur zum Vertrieb und Versand in der Deutschen Demokratischen Republik und den sozialistischen Ländern bestimmt”) im Textteil natürlich keine Überraschungen. Es handelt sich um Ausschnitte aus mehreren, zum damaligen Zeitpunkt recht rezenten Büchern (1970-77) des damaligen Erzbischofs von München und Freising, alles sauber nachgewiesen (und lektoriert von einem alten Bekannten, Hubertus Staudacher 🙂 ).

Doch der relativ frischgebackene Kardinal hatte sich die Mühe gemacht, für diese Ausgabe ein eigenes kurzes Vorwort zu verfassen, das mit dem Satz endet:
„Mein Wunsch ist, daß der so zustande gekommene Band vielen Christen in der DDR Hilfe sein möge, in dem Ringen um das Verstehen und Vollziehen der Botschaft Jesu Christi in dieser unserer Welt, in der zu leben uns aufgetragen ist. München, am Fest der Epiphanie des Herrn 1978, Joseph Kardinal Ratzinger“.

Aber es ist natürlich nicht dieser Schluß, der mich dazu veranlaßt hat, den Bücherfund aufzugreifen. Sondern diese Sätze, die das Vorwort eröffnen:

Jede Generation hat ihre eigenen Fragen an die christliche Überlieferung. In der Zeit der Jugendbewegung zwischen den beiden Weltkriegen wurde nach dem Scheitern der liberalen Epoche und ihres Fortschrittsglaubens die Kirche neu entdeckt; das ganze theologische Ringen konzentrierte sich auf dieses Thema.

“…nach dem Scheitern der liberalen Epoche und ihres Fortschrittsglaubens“! Ganz so deutlich und verknappt kannte ich das aus der Feder des geliebten verstorbenen Papstes noch nicht und mir scheint, es könnte vielleicht ein kleiner Baustein sein, in der jetzt wieder aufgeflammten Debatte, wann denn der vermeintlich “fortschrittliche” Konzilsperitus zum vermeintlichen “Reaktionär” geworden sei, zumal er den Gedanken dann explizit im Hinblick auf das Zweite Vatikanum weiterführt. Meiner Meinung nach unbedingt ein Baustein, der belegt, wie hilflos und unangemessen diese Begriffe dem Denken Joseph Ratzingers gegenüber sind! 

Ob die Herausgeber der JRGS (J.Ratzinger Gesammelte Schriften) die sehr spezielle Textsorte ‘Vorworte in Lizenzausgaben’ wohl auf dem Schirm haben? Vermutlich, aber vielleicht frage ich sie mal und berichte dann ggf. darüber.

Gereon Lamers 

Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., 16. April 1927 – 31.12.2022

Heute morgen endete, in seinem 96. Jahr, das irdische Leben von Joseph Ratzinger, emeritierter Papst Benedikt XVI.
Mir ist zum Heulen zumute, nicht zum Schreiben, aber es geht nicht an, daß dieser Tag auf PuLa keine Erwähnung findet.

Ich durfte Papst Benedikt nur einmal in meinem Leben persönlich sehen, vor 11 Jahren, auf dem Erfurter Domplatz, aus einiger Entfernung.
Doch das heutige Empfinden, es könnte nicht näher und nicht persönlicher sein.

Joseph Ratzinger war es, der meinen Weg zurück zur Kirche, zum Heil!, geprägt hat, wie das bei so vielen, vielen tausenden von Menschen auf der ganzen Welt der Fall war, deren Zeugnisse im Internet auch heute wieder aufscheinen.
Joseph Ratzinger stand uns im Geiste zur Seite, in den schlimmsten Stunden der Auseinandersetzungen, hier in Weimar und hat uns Kraft gegeben.
Am allerwichtigsten aber: Joseph Ratzinger hat es möglich gemacht, unsere Kinder in der Kirche, in einem vernünftigen Glauben aufzuziehen, der die Stürme der Pubertät überstanden hat! Er war in einem ganz unmittelbaren Sinne an ungezählten Abenden “mit am Bett”, wenn ‘die Fragen’ kamen!

Und deswegen kann ich heute natürlich sehen, daß uns sein Heimgang nach einem wahrhaftig erfüllten Leben einen mächtigen Fürsprecher in der ecclesia triumphans beschert, dessen wir so dringend bedürfen, weil der Kampf noch härter werden wird.  

Aber das ist mir gerade viel zu tröstlich und viel zu vernünftig.

Heute möchte ich einfach nur traurig sein dürfen. 

Gereon Lamers 

Der Adventskalender von Konversionen, Tag 24, Anna Diouf

Anna Bineta Diouf, geboren am 28. April 19(Sängerin), in die Kirche aufgenommen am 8. April 2012

Für unsere besonders liebe Freundin Anna Diouf hat sich in diesem Jahr ein Kreis geschlossen (vorläufig, zumindest), denn sie ist im Zuge ihrer beruflichen Umorientierung in ihre Geburtsstadt Köln gezogen.
Aufgewachsen ist sie aber in Düsseldorf und dort wird auch die Geschichte spielen, die sie uns für diesen Adventskalender aufgeschrieben hat. Ich habe Ihnen am 30. November eine wahrhaftige Weihnachtsgeschichte versprochen – und das ist sie auch! 

Anna Diouf (Bild: © Thomas Esser)

Von Düsseldorf aus führte Annas Weg sie zum höchst erfolgreichen Gesangsstudium (Mezzosopran war ihr Fach) nach Hannover und dann sehr früh schon in erste Engagements. Zuletzt war sie Ensemblemitglied am Eduard-von-Winterstein-Theater in Annaberg. Dort wurde sie zum Fan des Erzgebirges und wir haben von dort mit ihr zusammen spannende ‚Katholische Exkursionen‘ gestartet

Parallel dazu verstärkte sich jedoch das publizistische Engagement aus ihrem Glauben heraus immer mehr. Wir haben auch Anna ursprünglich über Twitter kennengelernt und wer dort ist, sollte unbedingt @Anne_de_Cologne folgen!
Schon seit 2018 Gastautorin der Tagespost wechselte sie schließlich in diesem Jahr von der Bühne ins Studio und in die Schreibstube, als Redakteurin und Moderatorin beim katholischen Fernsehsender EWTN. (Freilich, wer Sängerinnen kennt, als Konzertsängerin und Gesangspädagogin ist sie auch weiterhin tätig!). 

Aber jetzt genießen sie den:

Konversionsbericht Anna Diouf

Es war Weihnachten, und wie jedes Jahr ein Drahtseilakt. Eine Familie, die Kirche haßt, und eine Tochter, die Kirche liebt, das läßt sich nicht leicht unter einen Hut bringen. Das Fest der Geburt des Herrn und das Tannenbaum-und-bitte-bloß-nicht- streiten-Fest, sie fanden nur zufällig am gleichen Datum statt, ansonsten hatten sie nichts miteinander zu tun. 

Dieses Jahr aber hatte ich es dicht getaktet: 16.00 Uhr Christvesper in der evangelischen Hauptkirche. Danach Abendessen mit der Familie. Und dann die Christnacht in meiner katholischen Lieblingskirche. Alle sollten zufrieden sein, an diesem Heiligabend: Meine Familie, mein Herz und meine Seele. Warum eigentlich eine katholische Christnacht? Ich war doch als Jugendliche stramm evangelisch! Keine Gelegenheit hatte ich ausgelassen, meine Herablassung und Überlegenheit gegenüber Katholiken und ihrem papistischen Aberglauben zum Ausdruck zu bringen. Dass Katholiken einem atavistischen, dümmlichen, unbiblischen Glauben anhingen, war glasklar. 

Doch langsam bröckelte die Selbstsicherheit: Zuerst über „hochkirchliche“ Bestrebungen, die verloren gegangene Liturgie wiederzubeleben: In evangelischen Gruppen hatte ich gelernt, das Stundengebet zu singen, in deutscher Gregorianik, versteht sich. Ich hatte Weihrauch und Alben schätzen gelernt. Mein tiefes Verständnis für Form, die den Inhalt sichtbar macht und für die Legitimität und Schönheit des Rituals hatte ich weitgehend mit meinem evangelischen Bekenntnis in Einklang gebracht: Den Fehler hatten doch die Calvinisten gemacht, die Unierten, die Pietisten! Sie hatten die Katholizität des Glaubens aufgegeben. Das war niemals Luthers Plan gewesen. Die Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit, die mich womöglich schnell und schmerzlos in die Arme der katholischen Kirche getrieben hätte, war zumindest vorerst gestillt: Ich hatte Weihrauch, ich hatte Gewänder, Gesänge, Kreuzzeichen und Bilder. Was will man mehr! Ein geschickter Schachzug des Unterteufels, der dazu beauftragt war, meine Seele einzufangen. Von der Kirche ferngehalten mit den Mitteln der Kirche! Was für ein Coup!

In meiner Seele nagte irgendwo die Gewissheit, daß das nicht alles sein konnte. Zu viel Show. Zu viel Beliebigkeit. Man konnte sich mit „Liturgiebausteinen“ eine wunderschöne „lutherische Messe“ bauen, aber es blieben eben „Bausteine“, die wir nach unserem Gusto zusammenfügen konnten. Das war keine Liturgie, sondern ein menschliches Puzzlespiel. Das war es, was mich in die katholische Messe zog: Die Liturgie war zwingend! Sie war nicht zusammengebaut, sondern gewoben. Man konnte nicht ein Teilchen durch ein anderes ersetzen. Man mußte der Liturgie gehorchen, nicht andersherum. 

Und da war noch etwas. Die Hütte Gottes unter den Menschen: Der Tabernakel. Ja, wir echten Lutheraner, wir waren von der Realpräsenz überzeugt. Luther hatte den Begriff der Transsubstantiation abgelehnt, weil er die Hybris des Menschen ablehnte, dieses Mysterium begreifen zu können – so oder so ähnlich hatte ich es gelernt und verinnerlicht. Aber ich dachte auch: Wenn er lediglich die Unsicherheit der menschlichen Erkenntnis hatte festhalten wollen, war es dann nicht hochgefährlich, was ein Küster tat, den ich einmal im Vorbeigehen dabei beobachtete, wie er potentielles Blut Christi im Ausguß wegspülte, um den Kelch zu reinigen? Für Katholiken undenkbar. Der Leib Christi wohnte unter ihnen, und in seiner Präsenz musste ich Menschwerdung dieses Leibes feiern. 

Dabei mochte ich die barocke Form der Kirche, die ich ausgewählt hatte, überhaupt nicht. Ich mochte nicht die schwarz-weißen Schachbrettkacheln auf dem Boden, und ganz sicher war das allerhäßlichste Gnadenbild der Welt (eine anämische Jungfrau Maria mit latent habsburgischen Gesichtszügen und einer aufsehenerregenden Schleife auf dem Kleid) nicht nach meinem Geschmack. Aber ich fühlte mich eben wohl hier! 

Um 16.03 Uhr kam ich atemlos in der evangelischen Kirche an. Eine große Kirche, die mangels Gläubiger zur Hälfte in ein Café umgebaut worden war. Große Glastüren trennten den Gottesdienstraum davon ab. Mit mir standen noch einige Leute vor diesen Glastüren, auch ein paar Familien mit Kindern. Der Küster verwehrte uns den Eintritt: Die Kirche sei voll, Brandschutz. Ein Blick hinein zeigte, dass lediglich alle Sitzplätze besetzt waren. Es war noch massig Platz für Menschen, die gewillt waren, zu stehen. Als sich der Küster kurz abwandte, ging eine hagere, resolute Frau einfach hinein. Er hastete hinterher, packte sie am Arm und führte sie heraus. Wutschnaubend verließ sie die Kirche. Auf meine Bitte, uns hineinzulassen, sagte er mit Hinweis auf die zwei weiteren Christvespern an diesem Abend: „Sie können doch später wiederkommen“. Nein, dachte ich, plötzlich wütend. Das kann ich eben nicht. Ich muss meiner Familie gerecht werden, ich habe mühsam austariert, wie ich ihre, meine und Gottes Bedürfnisse in Einklang bringen kann. Ich kann nicht frei über meine Zeit verfügen, und ich kann nicht in einer oder zwei Stunden wiederkommen! Durch die Glastüren hörten wir gedämpft die erste Kantate des Weihnachtsoratoriums. Die Türen aufmachen, und dadurch das Kirchencafé für Gottesdienst zurückgewinnen? Undenkbar! Enttäuscht ging ich hinaus. An der Ecke stand eine rauchende Frau. Es war dieselbe, die aus dem Kirchenraum hinausgeworfen worden war. Sie erkannte mich und begann zu fluchen. Pfarrerswitwe sei sie. Ihr Mann habe so-und-so lang für diese Kirche gearbeitet, und nun das. Sie warf den Glimmstengel auf den Boden und zündete sich den nächsten an. Ich murmelte einige verständnisvolle Worte und ging meines Weges. 

In der Nacht ging ich in die katholische Kirche. Sie war nicht nur voll, sie war überfüllt. Ich fand kaum ein paar Zentimeter Platz zum Stehen. Die Gesangbücher waren schon lang verteilt, ein Mann neben mir hatte eins ergattert, und mit einer weiteren Frau schauten wir also nun zu dritt in ein Buch. Der Pater stellte sich vor die Krippe. Die Predigt war eine Ansprache, direkt an das Jesuskind gerichtet. Er hieß ihn willkommen, in der Welt, und in unseren Herzen. Die Kirche war erleuchtet von Kerzenlicht und vom Licht Christi, erwärmt nicht von der Masse der Menschen, sondern von Seiner Liebe. Trotz der Geschäftigkeit und des Geräuschpegels herrschte eine tiefe, friedvolle Andacht. Nichts von der professionellen Sterilität des verbürgerlichten „Gottesdienstes“ am Nachmittag. Heilige Nacht! 

Nach der Messe ging ich hinaus und machte mich auf den Heimweg. Plötzlich blieb ich stehen, mit voller Wucht von einem Gedanken getroffen. „Unsere Türen stehen allen offen“, hatte die evangelische Kirche in meiner Wahrnehmung immer von sich gesagt. „Zu uns kann jeder kommen.“. Solange Sitzplätze da sind. Dann werden die Glastüren zugemacht, und die Witwen und Waisen müssen draußen bleiben.
„Mir reicht’s jetzt“, sagte ich laut. „Ich werde katholisch.“ Nach Genehmigung von oben heischend, blickte ich auf – und stand vor der Mariensäule.  

Mariensäule zu Düsseldorf, Maxplatz (Bild: Wikicommons, Ies )

PuLa wünscht allen seinen Leserinnen und Lesern ein gnadenreiches und fröhliches Weihnachtsfest!

Gereon Lamers